„Ich konnte mir eigentlich gar nichts drunter vorstellen.“ Trotzdem hat sich Luka Rudloff auf diesen Selbstverteidigungskurs eingelassen. Und es ist nicht irgendein Selbstverteidigungskurs, sondern einer, der sich speziell an Rollstuhlfahrer, wie Luka, und Menschen mit Handicap richtet.
Der Verein für Physiotherapie und Rehabilitationssport hatte dazu eingeladen und Georg Müller ist in seinem Element. Er zeigt Luka die K.0.-Linie der empfindlichen Punkte in Gesicht und an den Armen. „Au, das tut weh!“, stellt der fest. „Stopp!“, ruft Luka mit lauter Stimme und streckt die Arme vor. Artikulieren, Distanz einhalten, das hat der Jugendliche schon gelernt. Melanie Höller von den Offenen Hilfen der Lebenshilfe ist beeindruckt, die Stimme von Luka ist schon viel fester als am Anfang.
Georg Müller: Die Gewaltbereitschaft nimmt zu
Müller ist eigentlich Kampfsportler und leitet die Schweinfurter Kampfsportschule Müller. Selbstverteidigung, findet er, ist für alle Menschen wichtig, egal ob mit oder ohne Handicap. „Die Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft nimmt zu“, stellt er fest, das beginne schon in den Grundschulen. Als Beauftragter für Gewaltprävention arbeitet er viel mit Kindern.
Aber auch Menschen im Rollstuhl oder mit einem anderem Handicap seien dagegen nicht gefeit, weiß Müller, deshalb findet er es wichtig, dass auch behinderte Menschen lernen, sich zu wehren.
Wer im Rollstuhl sitzt, ist den anderen mehr ausgeliefert.
Das wünscht sich auch Birgit Brischke. „Wenn man im Rollstuhl sitzt, ist man den anderen weit mehr ausgeliefert“, meint sie. Müller beweist ihr das Gegenteil. Es gibt im Kampfsport einen riesigen Fundus an Techniken, die sich durchaus auch für Menschen mit Behinderung oder ältere Menschen hervorragend eignen. Und mal ganz ehrlich, wer rechnet denn schon damit, dass ein Rollstuhlfahrer seinem Gegner entschlossen und notfalls auch aggressiv entgegengeht, und sich zu wehren weiß.
Auch Laura schlägt inzwischen selbstbewusst auf die Hände von Georg Müller ein. Aber kaum ist die Übung zu Ende, schaut sie wieder nach unten auf den Boden. Es sind nicht in erster Linie die Techniken, die helfen, es ist die Einstellung, weiß Müller. Und zu Laura gewandt sagt er. „Du schaust schon wieder auf den Boden, merkst du das? Schau mir in die Augen!“ „Ihr müsst an euch selbst glauben“, schärft er den Teilnehmern ein. „Wenn ihr nur so viel mitnehmt, dass ihr den anderen selbstbewusst in die Augen schaut“, fordert er. Er ist sich bewusst, dass man Selbstbewusstsein nicht an einem Tag trainieren kann, aber einen Grundstock will er legen.
Melanie Höller weiß, dass es Zeit braucht, bis sich Menschen mit Handicap hierher trauen, aber sie sieht auch die Veränderung, die in relativ kurzer Zeit mit ihren Schützlingen geschieht. „Das wäre generell für jeden gut, es geht halt auch um Sicherheit und Selbstvertrauen“, meint sie.
Wegen einer Entzündung am Rückenmark war Stefanie Schmidt lange auf den Rollstuhl angewiesen. Jetzt kann sie wieder laufen und stehen. Aber „ich kann nicht wegrennen“, erzählt sie. Deshalb ist sie da. Die Unsicherheit, nicht weglaufen zu können, will sie durch die Sicherheit, sich wehren zu können, ersetzen. Auch sie lernt, laut und deutlich „Stopp!“ zu rufen und dann „die Schildkröte“ zu machen: die Hände links und rechts ans Gesicht und die Ellbogen hoch.
Rollentausch zwischen Lehrer und Schülern
Dann tauscht Müller die Rollen, jetzt braucht er den Rat der Rollifahrer. Schon länger beschäftigt ihn die Frage, wie und wo man am besten einen Stecken am Rollstuhl befestigen könnte. Denn, wenn jemand mit dem Stecken angreift, wäre es gut, einen solchen zur Abwehr zu haben. Er macht es mit Höller vor. Sie hält den Stecken quer vor den Körper, auf den Müller einschlägt, und federt den Schlag so mühelos ab.
„Wenn sie jetzt dabei noch atmen würde, wär?s perfekt“, meint er. Selbstverteidigung hat viel mit Atmung und der Einstellung zu tun, erklärt er. „Ich halt die Luft an, weil das ganz schön einschüchternd ist“, erklärt Höller. Müller hat also noch einiges zu tun, damit sich seine Trainingspartner nicht mehr so leicht einschüchtern lassen.
Der Verein für Physiotherapie & Rehabilitationssport hat in den Räumen seiner Kampfsportschule eine neue Heimat gefunden. „Wenn man sich überlegt, dass Menschen oft ein halbes Jahr auf eine Reha-Maßnahme warten müssen, das geht doch nicht“, meint Müller. Als Rehabilitationssportanbieter ist er bei allen Krankenkassen zugelassen und wurde vor einem Jahr sogar vom Bayerischen Landessportverband mit dem Qualitätssiegel „Sport pro Gesundheit“ ausgezeichnet. Dabei ist es ihm wichtig, im Sport Menschen mit und ohne Handicap gleichermaßen zu begleiten.