Das ältere Ehepaar betritt ein wenig zögernd den Laden. „Unser Sohn ist gestorben“, sagt der Mann, „wir müssen seine Wohnung ausräumen, und er hat sehr viele Bücher.“ Marc Lücke notiert sich Adresse und Telefonnummer und verspricht, in den nächsten Tagen vorbeizukommen. Er fragt nicht, wie viele und welche Bücher. Er muss sie selbst sehen, um zu entscheiden, ob er sie gebrauchen kann.
„Ich biete ganz normale Bücher für ganz normale Leute an“, sagt Marc Lücke, Inhaber des Antiquariats Lücke in der Brückenstraße. Das kann das gebrauchte Taschenbuch für 2 Euro sein, das kann aber auch der komplette Brockhaus um 1900 sein oder die signierte Erstausgabe der „Blechtrommel“ von Günter Grass, in der noch der Zeitungsausschnitt von der Signierstunde liegt, die der Vorbesitzer einst in Bamberg besucht hat. In der Bildunterzeile ist von Grass' „Butt-Roman“ die Rede – ein Irrtum des Berichterstatters. Ein schönes Beispiel dafür, dass Bücher oft ganz eigene Geschichten erzählen.
Marc Lücke ist Hamburger. Dort hat er auch Buchhändler mit Spezialgebiet Antiquariat gelernt – anders als viele Quereinsteiger der Branche, die nach dem Studium eben nicht Taxifahrer geworden sind. Marc Lücke wirkt nur im ersten Moment hanseatisch kühl. Vieles, was er sagt, zeugt von hintergründigem Humor, und Bemerkungen wie die über die verhinderten Taxifahrer unterstreicht er mit einem kurzen Aufblitzen seiner dunklen Augen. Seine Frau hat er in Kulmbach kennengelernt – sie ist Schweinfurterin, und so betreibt er seit 1991 sein Antiquariat in Schweinfurt, bis 1993 in Oberndorf, die folgenden zehn Jahre am Fischerrain, seit 2003 in der Brückenstraße.
Das kleine Schweinfurt, eine Stadt ohne Universität, ist übrigens gar kein so schlechtes Pflaster für ein Antiquariat: „Ich bin immer wieder überrascht, was die Schweinfurter hier alles kaufen“, sagt Lücke. „Es gibt hier ein großes, bildungsnahes Publikum. Allerdings würde ich mir wünschen, dass mehr Leute zum Stöbern in den Laden kommen.“
Vielleicht stellt der Aufbau des Ladens eine gewisse Hemmschwelle dar: Marc Lücke thront gleich gegenüber dem Eingang in einer Art Bücher-Loge. Die soll nun aber verschwinden, Lücke will umbauen: Der vordere Bereich des Ladens wird ein offener Bereich mit Tischen zum Stöbern, in dem sich der Kunde nicht gleich beobachtet fühlen soll.
Einiges an Kindschaft bringt die Nähe zum Museum Georg Schäfer. Dessen – auswärtige – Besucher schauen gern auch bei Marc Lücke rein und kaufen dann Bücher, die in Schweinfurt sonst eher nicht gehen würden. Ältere Bücher, Landeskunde und Kunst etwa. Hauptumschlagplatz für alles, was in einem stationären Antiquariat in einer so kleinen Stadt sonst unverkäuflich wäre, ist aber das Internet. Das Online-Geschäft macht etwa die Hälfte von Lückes Umsatz aus. Auf der Homepage www.amgl.de ist das Angebot nach Sachgebieten erfasst und sortiert, von „Alpinismus“ bis „Würzburg“ von „Altphilologie“ bis „Widmungsexemplare/Signierte Bücher“.
Das Internet ist für den Antiquar Fluch und Segen gleichzeitig. „Es ist ein riesiger Fundus an Wissen, aber nicht alles, was im Internet steht, ist richtig. Das war aber früher bei Büchern auch nicht anders“, sagt Marc Lücke. Das Netz eröffnet einerseits ungeahnte Informations- und Vertriebsmöglichkeiten. Man kann sich online höchst bequem einen Überblick über Angebot, Nachfrage und Preise verschaffen. Allerdings treibt das Internet gerade deshalb auch kuriose Blüten. Etwa wenn ein Anbieter ein Taschenbuch für 500 Euro anbietet, nur weil er im Netz kein weiteres Exemplar finden konnte. Der damit aber weitere Anbieter auf den Plan ruft, die dasselbe – vermeintlich seltene Buch – nun für 480 Euro anbieten. Und schon bildet sich eine typische Internet-Blase, die mit dem tatsächlichen Wert der Ware nichts mehr zu tun hat. Im Gegenzug sind Bücher, die man früher für selten hielt, dank des Internet massiv im Preis gefallen. Für Literatur nach 1945 gilt das ganz besonders, sagt Marc Lücke.
Es gibt sogar Händler, die Leerverkäufe machen. Die ein Buch, das sie gar nicht haben, zu einem bestimmten Preis an den Mann bringen, und erst dann selbst eines kaufen – entsprechend günstiger, versteht sich.
Heute kann jeder online mit Büchern handeln wie mit Schweinehälften oder Orangensaft. Nur dass die Materie ein wenig komplexer ist. Über Bücher gibt es unendlich viel zu wissen – über Papiersorten, Art der Bindung, Formate, Bibliografierung. „Ob ein Buch wirklich eine Erstausgabe ist, das lässt sich oft gar nicht so leicht feststellen“, sagt Marc Lücke. „Ein guter Antiquar ist gebildet und hat ein gutes Gedächtnis.“ Es gibt zwei Ansätze: das Buch als Objekt, nach dem manche Sammler 20, 30 Jahre suchen. Das wegen seiner Seltenheit, seines Alters oder seiner Provenienz wertvoll und begehrt ist. Und das gebrauchte Buch, das günstiger zu haben ist als das neue. Das man vielleicht ein-, zweimal liest und dann weitergibt, Krimis und Thriller etwa. Marc Lücke verfolgt beide Ansätze. Neulich hat er ein Buch über Prag aus der Mitte des 19. Jahrhunderts in deutscher Sprache für 1200 Euro an einen Sammler in Japan verkauft. Aber auch wer sich für noch lieferbare Romane lebender Autoren – etwa Umberto Ecos „Das Foucaultsche Pendel“ – interessiert, der kann hier fündig werden.
Spezialgebiet hat er keines, auch wenn er den Fokus auf fränkische Landeskunde und alte utopische Literatur legt. Marc Lücke kauft zu allen Themen Bücher – aus Nachlässen, auf Auktionen oder von Einzelanbietern, vorausgesetzt, sie sind interessant und gut erhalten. Keller- oder Rauchgeruch sind Ablehnungsgründe. Jeder kann Bücher anbieten, allerdings empfiehlt es sich, vorher anzurufen. Sonst kann es einem ergehen, wie dem Mann vom Lande, der unangemeldet mit zehn Bücherkartons im Auto vor Lückes Laden in der Fußgängerzone vorfuhr, kein Buch loswurde und dann auch noch einen Strafzettel am Auto hatte.
Schweinfurter Buchhandel
Bücher sind keine Allerweltsware. Manche prägen unser Bild vom Leben und von der Welt und begleiten uns als Ratgeber, Trostspender oder geistige Fluchthelfer durchs ganze Leben, ob „Pu der Bär“ oder „Zauberberg“. In einer Serie stellen wir deshalb die Läden vor, die uns in Schweinfurt diese Bücher verschaffen, von den unabhängigen Buchhandlungen über Kunstbuchhandlung und Antiquariat bis hin zu den Filialen der beiden großen Ketten.