Die Amerikaner haben die knapp sechs Wochen seit der Besetzung Gerolzhofens am 13. April 1945 gut genutzt, haben sich umfangreich in der Stadt informiert, kennen die Nazis und die Regimegegner. Nun gilt es nach der Übergangsphase im Rathaus "aufzuräumen".
Andreas Wächter, derzeit einziger lebender Ehrenbürger der Stadt, erinnert sich an diesen Tag, als sei alles erst gestern gewesen.
Der damals 34-Jährige will gerade die Pferde für die Feldarbeit einspannen, da kommt die Frau von Thomas Keller, dem neu eingesetzten Landrat, auf den Hof der Familie Schulz in der Schuhstraße, in den der Herlheimer 1937 eingeheiratet hat. Sie erklärt ihm, er habe sofort zur US-Militärregierung zu kommen.
Andreas Wächter: "Da habe ich die Gäule wieder angebunden, mich umgezogen und bin hoch ins Landratsamt". Eine Dolmetscherin bringt ihn ins Zimmer eines US-Offiziers. Der übergibt Wächter einen großen Fragebogen. Den möge er daheim ausfüllen und sich wieder umgehend melden.
131 Fragen legt die alliierte Militärregierung im Rahmen der Entnazifizierung "verdächtigen" als auch Personen vor, die von ihr für "höhere Aufgaben" vorgesehen sind. Das Spektrum reicht vom Körpergewicht bis zur Frage "Welche politische Partei haben Sie in der Novemberwahl 1932 gewählt?".
Als der Landwirt um 1130 Uhr von der Weiße-Turm-Straße her den Landratsamtshof wieder betritt, kommen gerade der Uhrmachermeister Karl Schmitt und der Schriftsetzer Andreas Steil durch die Pforte zur Brunnengasse hoch gelaufen. Auch sie haben ihre ausgefüllten Fragebogen dabei, ohne dass dies der jeweils anderen Seite bekannt ist.
Zu dritt gehen sie die Treppe in den ersten Stock hoch. Dort sitzen auf der Holzbank, die dort heute noch steht, bereits 1. Bürgermeister Hans Gress und 2. Bürgermeister Richard Röder. Wieder werden sie von der Dolmetscherin aufgerufen. Der amerikanische Offizier nimmt jeweils die Fragebogen in Empfang, um sie durchzulesen.
Es ist inzwischen fast 13 Uhr. Nun greift der Mann von der Militärregierung zum Telefonhörer. Wenige Augenblicke später erscheint ein bewaffneter Offizier und verkündet: "Meine Herren kommen Sie mit".
Im Hof wartet bereits ein Jeep. Andreas Wächter: "Keiner wusste, wohin es geht". Der Fahrer bringt das Quintett ins Rathaus nach Schweinfurt. Wieder geht es die Treppe hoch, wieder sitzen alle auf einer Holzbank. Wieder werden sie aufgefordert, mit dem Fragebogen ins Büro zu kommen. Dann dürfen sie wieder auf der Bank Platz nehmen.
"Keiner wusste, wohin uns der US-Jeep bringt"
Andreas Wächter, den die US-Militärs als Ortshofberater einsetzten
Zu dieser Zeit ist bis Ende Juni 1945 noch die amerikanische Militärregierung in Schweinfurt für die Stadt und den Landkreis Gerolzhfoen zuständig. Der Chef ist Major Adlai S. Grove.
Nach weiteren 15 Minuten werden die Männer aus Gerolzhofen wieder aufgerufen. Andreas Wächter hat Wortwahl und Aussprache des hohen US-Offiziers bis heute im Gedächtnis behalten. Adlai S. Grove erklärt demnach: "Herr Bürgermeister Gress, Sie jetzt nix mehr Bürgermeister. Herr Uhrmachermeister Schmitt, Sie jetzt Bürgermeister".
Im gleichen Stil fährt der Major fort: "Herr 2. Bürgermeister Röder, Sie jetzt nix mehr 2. Bürgermeister. Herr Steil Sie jetzt 2. Bürgermeister. Herr Wächter, Sie jetzt Ortshofberater" (siehe Stichwort).
Doch noch ist Mr. Grove nicht am Ende. Er sagt: "Meine Herren, Sie können jetzt gehen. Herr Gress, Sie bleiben hier!". Der soeben abgesetzte Bürgermeister, der seit 10. August 1934 im Amt war, weiß was das bedeutet, bittet Wächter, der als Letzter die Amtsstube verlässt: "Grüßen Sie meine Frau von mir".
Nun bringt der US-Jeep die restlichen vier wieder zurück nach Gerolzhofen. An der städtischen Bullenzuchtstation an der Ecke Bahnhof-/Dreimühlenstraße hält der Fahrer an.
Unmittelbar gegenüber befindet sich die Spedition von Hans Gress. Seine Frau Helene ist gerade im Vorgarten beschäftigt, als die vier aussteigen. Andreas Wächter informiert sie darüber, was passiert ist, richtet ihr den Gruß von ihrem Mann aus. Der heute 94-Jährige: "Sie hat dann geweint und ist ins Haus gegangen".
Hans Gress kommt wegen seiner NS-Vergangenheit zunächst ins Lager Hammelburg, später ins große Lager bei Nürnberg-Langwasser.
Unterdessen sind Schmitt, Steil und Wächter im Rathaus eingetroffen. Andreas Wächer: "Es waren nur noch Andreas und Paula Schieber sowie ein paar Mädchen in der Kasse da!" Sofort machen sich die neuen Verantwortlichen an die Arbeit.
Am drängendsten ist das Flüchtlingsproblem. Die Stadt ist übervölkert, die Häuser bald bis unters Dach vollgepfercht, 20 bis 30 Leute in einem Haus wie bei den Wächters und Schmitts in diesen schlimmen Tagen keine Seltenheit. Bis spät am Abend kommen immer wieder Menschen an, sitzen die Nacht am Straßenrand, bis sie irgendwann untergebracht werden können.
Als Karl Schmitt am Spätnachmittag wieder heim kommt, weiß niemand, wo er in der Zwischenzeit gewesen ist. Doch er kann alle beruhigen, eröffnet der Familie, dass er von der Militärregierung als 1. Bürgermeister eingesetzt ist, erinnert sich sein Sohn Gerhard Schmitt.