„Ich fühl mich als Opfer.“ Edda Scharek strebt zielsicher auf das Bürgerhaus zu. In der Wirtsstube ist es bereits voll. Sie setzt sich an den Tisch und packt ihr Strickzeug aus. „Vor 15 Jahren habe ich mir geschworen: nie mehr – und jetzt sitz ich da“, meint sie ein bisschen resigniert und fängt dann an, sich mit ihrer Nachbarin zu unterhalten.
Zwischen 25 und 30 Frauen treffen sich hier jeden Mittwoch und tun das, was Scharek eigentlich nie mehr tun wollte: Sie stricken Socken. Und das nicht etwa für sich selbst, sondern für Obdachlose in der Bundeshauptstadt. Martha Fischer hat über den Amtsboten zu dieser Aktion aufgerufen. Sie bat um Wollspenden und fleißige Stricklieseln. Beides bekam sie.
Im Sommer machte Fischer mit einer Gruppe von Freunden eine Spreewaldradtour. Bevor es losging, besuchte sie ihre Schwester, Käthe Herterich, die ehrenamtlich in einer Suppenküche der Sisters of Charity aushilft. Dort wurden sie gleich zum Gemüseschneiden eingeteilt, und bekamen einen kleinen Einblick in die Lage der Obdachlosen und Notleidenden in Berlin. Da Martha Fischer eine „leidenschaftliche Strickerin“ ist, war die Idee für die gemeinnützigen Stricktreffs schnell geboren.
Käthe Herterich ist vor zweieinhalb Jahren nach Berlin gezogen, seitdem hilft sie in der Suppenküche mit. Anfang des Monats kommen rund 130 Menschen, Ende des Monats über 100 mehr, erzählt sie. Das seien dann nicht nur Obdachlose, sondern auch andere Bedürftige, bei denen das Geld am Ende des Monats nicht mehr reicht. Die Notleidenden kämen aus allen Schichten der Bevölkerung, ein Drittel davon seien Frauen, viele junge Menschen, erzählt sie. Insgesamt leben 11 000 Obdachlose in der Bundeshauptstadt, „geschundene Menschen“, sagt Herterich. Sie weiß, was diese Menschen vor allem brauchen: „Das Wichtigste in der Suppenküche ist ein gutes Wort und ein Lächeln.“
Herterich ist eine von vielen Helfern. Weil Mutter Teresa, die die „Sisters of Charity“ gegründet hat, wenig von Technik und Maschinen hielt, wird bis heute alles von Hand zubereitet. Es braucht also viele Hände, um die Eintöpfe vorzubereiten. „Auch unter den Helfern entsteht auf diese Weise eine Gemeinschaft“, stellt Herterich fest und weiß, dass auch einige, die früher selbst in der Suppenküche Hilfe gefunden haben, zum Helferteam gehören.
Die Gemeinschaft zu fördern, war auch Martha Fischer ein Anliegen, als sie den Stricktreff ins Leben rief. Das ist ihr gelungen. Die Wirtsstube im Bürgerhaus ist gemütlich, die Frauen unterhalten sich und tauschen sich aus. Dazu gibt's Kaffee und Kuchen. „Man muss die Leut ja bei Laune halten“, meint Fischer.
Helga Graf kommt „lieber zum Kaffeekochen“. Da werde schließlich auch Hilfe gebraucht, meint sie. Und Socken stricken? Nein, das hat sie vor Jahren aufgegeben. Sie ist mit den Anleitungen nie zurechtgekommen. Gertraud Göb dagegen kommt extra von Eßleben, um die „Bumerang-Ferse“ zu lernen, mit Erfolg. Doris Langer hat die Aufforderung zum Strick-Treff im Gemeindeblatt gelesen. Sie strickt schon immer Socken, genießt aber den fachlichen Austausch. „Es gibt so viele Möglichkeiten und Strickmuster.“ Außerdem meint sie ganz pragmatisch: „Hier kann man die ganzen Wollreste verarbeiten. Bevor sich die Motten drübermachen, ist es doch besser, man nimmt sie für einen guten Zweck.“ Sabine Neimann ist Hausmeisterin im Bürgerhaus, auch sie ist zu den Stricklieseln gestoßen. Sie wollte „was Nützliches tun und dazulernen“. „Wenn man den Bogen erst mal raushaut, geht's gut“, stellt sie fest.
Maria Rottler gehört dagegen zu den Profis. „Ich hab' bestimmt schon 20 Paar Socken gestrickt“, verkündet sie stolz, allein an diesem Nachmittag hat sie vier Paar mitgebracht. Rottler strickt seit gut 60 Jahren. „Früher habe ich noch die Kinder eingestrickt“, erinnert sie sich und bedauert: „Alleweil rentiert sich's nicht mehr, die Wolle ist ja teurer als die fertigen Pullover.“ Aber die seien ja dann auch nicht so gut und schön, meint eine andere Frau und schon entspannt sich ein Gespräch über den Wert von Stangenpullovern.
Über 150 Socken haben die Frauen schon gestrickt, bis Weihnachten werden‘s über 200, ist sich Martha Fischer sicher. Jetzt haben die Damen nur ein Problem: Wie kommen die Strümpfe von Schwebheim nach Berlin? Gesucht wird eine Mitfahrgelegenheit. Wer noch vor Weihnachten mit dem Auto nach Berlin fährt und die Stricksachen für die Obdachlosen mitnehmen könnte, darf sich bei Martha Fischer, Tel. (0 97 23) 77 30, melden.