Auf die Frage, ob sie sich, wenn sie 15 oder 16 wäre, bei Dieter Bohlen bewerben würde, antwortet Canan Semel mit einem sehr deutlichen „Nein“. Vielleicht bei „The Voice“. Bei dieser Castingshow würden die jungen Leute einigermaßen fair behandelt. Deswegen würde sie ihren Schülern auch nicht abraten, es da mal zu versuchen – von Bohlen aber unbedingt.
Die Schulzeit mit eingerechnet, steht Canan Semel seit mehr als 30 Jahren als Sängerin auf der Bühne. Seit fünf Jahren unterrichtet die 49-Jährige Popgesang an der Musikschule Schweinfurt. Vorher gab es das Fach in Schweinfurt nicht. Einige ihrer Schülerinnen – nur vier von derzeit 25 sind Jungs, deswegen bleiben wir bei der weiblichen Form – sind richtig gute Sängerinnen, sagt sie. Vier kamen 2013 beim Bundeswettbewerb Jugend musiziert ganz nach vorne.
Sie selbst wollte schon als Kind singen. Unterricht im Popgesang gab es damals nicht. Also hat sie Querflöte gelernt und war immerhin so gut, dass sie nach dem Abitur am Würzburger Konservatorium angenommen wurde. Im Studium sei sie der Schrecken der Dozenten gewesen, weil sie eigentlich nicht Querflöte spielen, sondern nur den Abschluss machen wollte – und eben singen.
Die Gesangslehrer ihrer Jugend waren ABBA, Barbra Streisand und die Rockband „Heart“. Wenn die im Radio oder im Fernsehen gespielt wurden, saß Canan mit ihrem kleinen Mikrofon davor, nahm die Songs auf dem Kassettenrekorder auf und sang darüber. Oder sie übte, wie Tausende anderer Mädchen auch, mit der Haarbürste vor dem Spiegel. Mit dem Unterschied, dass Canan Semel schon damals eine sehr gute Stimme hatte.
Was wohl aus ihr geworden wäre, wenn sie eine Lehrerin gehabt hätte, wie sie selbst eine ist? Eine, die den jungen Leuten nicht nur die absolut unerlässliche Technik beibringt, sondern auch die Liebe zum Gesang mit großer Leidenschaft vorlebt? Vielleicht wäre es doch zum ganz großen Durchbruch gekommen. Wer weiß.
An dieser Stelle geht Canan Semel noch einmal zurück und erzählt von den Lehrern, die sie gefördert haben. An der Kerschensteiner Grundschule hatte sie das Glück, bei Bernd Geith, dem späteren Musikschuldirektor, in eine musische Klasse zu kommen. Am Olympia-Morata-Gymnasium machte sie bei allem mit, was Musiklehrer Bernd Geiger damals auf die Beine stellte. Chor, Ballett, Orchester, Musical – das war ihre Welt, was man von Mathe oder Physik nicht sagen konnte. Und dann gab es noch den „sehr guten Flötenunterricht bei Doris Endres an der Musikschule“.
Während des Studiums singt Canan Semel vier Jahre lang bei der Coverband „New Camp“, verdient richtig Geld. Sie lernt Ed Sperber kennen, tritt in seinem Nürnberger Rundfunkorchester auf, wird als Studiomusikerin gebucht und bekommt einen Plattenvertrag. Ihre Single „Whatever happens“ wird einige Monate ständig im Rundfunk gespielt. 1989 ist sie beim Vorentscheid zum Grand Prix dabei, einige Türen öffnen sich, sie steht kurz vor dem großen Durchbruch – der dann aber, wie bei vielen hervorragenden Musikern, doch nicht kommt.
Erfolgreich ist Canan Semel dennoch. Als „lebender Plattenspieler im Dienstleistungsbereich“, wie sie ihre Arbeit scherzhaft nennt, ohne sie abwerten zu wollen. Sie hat mit mehreren etablierten Galabands gearbeitet, man kennt sie in der Szene – vor allem seit sie eine der „Eurocats“ ist. Das ist ein durchaus renommiertes Vocal-Quartett: vier Profisängerinnen, gut aussehende Frauen, begabte Tänzerinnen und Entertainerinnen. Die Cats bieten auf großen Galas eine professionelle Bühnenshow – vor Versicherungsmanagern ebenso wie auf dem Kreuzfahrtschiff.
Außerdem kann man Canan Semel nach wie vor als Studiosängerin buchen, solo für einen gefühlvollen Auftritt bei der Hochzeit, bei Firmenfesten oder im Duo mit dem Pianisten Florian Mohr. Das Duo „True Colours“ bietet Musik von Sting und Streisand über aktuelle Chartsongs bis zu Jazz-Standards. Dass die 49-Jährige auch eine erfahrene Moderatorin bei Podiumsdiskussionen und Firmenpräsentationen ist, sei hier nur am Rande erwähnt. Schweinfurter kennen sie wohl auch noch als langjährige Moderatorin beim lokalen Fernsehsender TV 1.
Schade, dass es kein charmanteres Wort für „Rampensau“ gibt. Denn das ist Canan Semel eigentlich, sie liebt die Bühne. Aber sie ist auch eine leidenschaftliche Lehrerin. Einen Tag pro Woche gibt sie Schulmusikstudenten an der Hochschule für Musik in Würzburg einen Einblick in den Popgesang, zwei Tage pro Woche unterrichtet sie an der Musikschule in Schweinfurt. Im Gegensatz zu mancher Flöten- oder Klavierlehrerin hat sie das Glück, nur Schüler zu haben, die unbedingt lernen wollen – auch wenn die Ausbildung viel komplexer ist, als viele Anfänger, Eltern und Kritiker denken.
Popgesang hat immer noch mit Vorurteilen zu kämpfen. Klar, bis einer Klavier spielen kann, dauert es Jahre. Und einen einfachen Song von Nena oder Silbermond könne jeder singen, der eine gute Naturstimme hat. Aber um ein komplexes Lied von Christine Aguilera richtig gut zu interpretieren, dazu braucht es Jahre, sagt Semel und stimmt spontan einen Song an, bei dem sie so mühelos durch alle „Modes“ wechselt wie die Aguilera. Modes – so nennt man die Stimmsitze und unterscheidet nicht nur in Kopf- und Bruststimme. Nora Jones beispielsweise singt mit einer „Neutral“-Stimme mit Hauch. Adele intoniert „overdrive“, also sehr hoch und sehr kraftvoll drängend. Kostprobe. Schließlich Amy Winehouse mit ihrer unverwechselbaren „Edge“-Stimme, die irgendwo aus dem Nasenraum zu kommen schien. Semel hat sie alle drauf.
Es braucht Jahre der Übung, um so zu singen, ohne sich zu überfordern. Das gelte auch für Sängerinnen mit großer und robuster Stimme, wie sie eine hat. Den meisten Schülerinnen rät sie übrigens ab, Berufssängerin zu werden. Es ist ein hartes Brot. Ihre eigene Tochter hat sich für diesen Weg entschieden. Victoria studiert Popgesang in Osnabrück. Mutter wie Tochter war schon lange klar, dass sie nichts anders machen wird.