Kürzlich hat Dietrich Klinge die E-Mail einer jungen Frau erhalten, die nach dem Besuch der Ausstellung "Schwerkraft-Fliehkraft" in der Kunsthalle ihm dafür gedankt hat, dass er sie mit seinen Arbeiten aus dem Alltag herausgerissen habe. Die Kunst hat sie berührt.
Genau dieses Berühren ist es, um das es in der Kunst geht. Darüber waren sich der Künstler Dietrich Klinge und der frühere Kunstreferent der Diözese und Domkapitular Jürgen Lenssen beim Tischgespräch inmitten der Ausstellung einig. Umgeben von den großformatigen Bildern Hartwig Ebersbachs und den monumentalen Skulpturen Klinges setzten sie sich unter der Moderation der wissenschaftlichen Mitarbeiterin des Hauses, Julia Weimar, mit der Ausstellung auseinander, die anlässlich des Mauerfalls vor 30 Jahren konzipiert worden ist.
Nicht der Künstler zählt, sondern allein das Werk
Weimar begann mit einer Zeitreise. Eine gedankliche Reise zu einer jahrhundertealten Mühle in Mittelfranken, dem Zuhause des Ehepaars Klinge, voller Bilder, Grafiken, Skulpturen, Bücher. Darunter eine Reihe von Köpfen, die die Geschichte der Kunst umspannen – griechischen, römischen, ägyptischen, tibetischen Ursprungs und mittendrin eine Arbeit Klinges. "Wir leben aus dem, was früher war", erklärt dieser das Ensemble. Er könne die Welt nicht neu erfinden, sagt er und sieht sich auf der Suche, "ob meine Sachen die Ausstrahlung der anderen Köpfe hat". Dabei zähle nicht der Künstler, sondern allein das Werk aus sich heraus.
Klinge und Lenssen, der übrigens von 1975 bis 1981 in Dittelbrunn tätig war, kennen sich schon lange. Der Priester, der hunderte von Kirchen und sakrale Räume in der Region gestaltet oder erneuert hat, ließ Klinge für Stift Haug in Würzburg ein über vier Meter hohes Kreuz schaffen, das im vorderen Teil des Kirchenraumes den Besucher empfängt. Es setzt sich, so Lenssen, bewusst vom historischen Rahmen der Kirche ab, zeigt dem Eintretenden, "das Kreuz hat mit mir zu tun". Es schafft Vergegenwärtigung.
Dieses Prinzip zieht sich durch die Arbeiten des 65-jährigen Klinge, der als Kind aus der DDR in den Westen kam und unter anderem bei Alfred Hrdlicka studiert hat. Seine Kunst wurde einmal als "interpretationsoffen" mit sakralen wie profanen Bedeutungsebenen bezeichnet, fordert den Betrachter.
Bei der Konzeption der Ausstellung war es Klinge wichtig, mit der Größe seiner Skulpturen sowohl dem hohen Raum wie dem Betrachter gerecht zu werden. Dabei gehe es um Dialogfähigkeit.
Lenssen: Jede Zeit hat ihre eigene Kunst
Im Zentrum der großen Halle stehen drei Skulpturen, die das Wendethema direkt angehen. Ailanthja mag für die Vielfalt der Menschen stehen, der Zündler Herostrat für das Verbrennen der sozialistischen Idee durch die SED, Gordian für das sich voneinander Anziehen und gleichzeitig Abwenden. Umgeben sind sie von einer Reihe beobachtender Figuren mit unterschiedlichsten Temperamenten.
Warum ist es für viele so schwierig, Zugang zu zeitgenössischer Kunst zu finden?, wollte Weimar wissen. Lenssen glaubt das nicht. Wer das sage, habe auch das Alte nicht verstanden. Das Zeitgenössische stehe für die Fragestellung zur alltäglichen Lebenssituation. Kunst dürfe nicht in Ruhe lassen, jede Zeit habe ihre eigene Kunst, sagte Lenssen. Wichtig sei die Bereitschaft, sich auf das Kunstwerk einzulassen, seine eigene Situation darin zu erkennen. Dem stimmt Klinge zu. Für ihn sei wichtig, Dinge zu thematisieren, die uns betreffen, er sei Teil der Welt, der er sich nicht entziehen könne.