Zur Würdigung Friedrich Rückerts in der Serie "100 Gründe, Main- franken zu lieben":
Es ist eine immer wieder vorge- brachte Legende, wenn behauptet wird, Rückert habe 44 Sprachen "beherrscht". Zur Beherrschung einer Sprache gehört das souveräne Verfügen über Wortschatz und Grammatik mit der Fähigkeit, aktiv und passiv an einem Dialog teilzu- nehmen und sich gegebenenfalls auch schriftlich in der Alltagsspra- che zu äußern. Dazu war Rückert keinesfalls in der Lage, zumal er wahrscheinlich nie einen Native- Speaker aus Arabien, Persien oder Indien getroffen hat. Wirklich be- herrscht - im Sinne einer analyti- schen Auseinandersetzung mit der sprachlichen Struktur - hat Rückert "lediglich" das Arabische, das Persi- sche und das altindische Sanskrit sowie das Hebräische. Dabei muss immer wieder betont werden, dass es sich hier um "Buchsprachen" handelt, vergleichbar dem Altgrie- chischen und Lateinischen des gymnasialen Curriculums.
Die Behauptung, Rückert sei "wohl der kosmopolitischte Poet des 19. Jahrhunderts" gewesen, ist falsch. Kosmopolitismus misst sich nicht daran, wie viele Texte ein Stubenge- lehrter wie Rückert aus fremden Sprachen übersetzt hat. Kosmopoli- tismus (zu deutsch Weltbürgertum) ist ein "Standpunkt, der den ganzen Erdkreis als Heimat betrachtet und alle Menschen als Mitbürger und Geschwister ansieht". Gerade diese Einstellung hat Rückert nicht ge- teilt. In der Zeit der Befreiungs- kriege 1813/14 gießt der Dichter Hohn und Spott über Napoleon und die geschlagenen französischen Heere aus (siehe "Geharnischte Sonette" und Napoleon-Dramen). In der Revolutionszeit 1848/49 schimpft Rückert in den zumeist unveröffentlichten politischen Ge- dichten gegen die "roten Demokra- ten" in Frankreich und zugleich gegen den Despotismus in Russ- land. Am meisten erregt es ihn, als seine Tochter Marie 1855 aus Wei- mar eine Russin als Freundin mit nach Hause bringt.
Rückerts kleinbürgerlich nationa- listisches Weltbild war zwanghaft, angstbesetzt und voller Vorurteile. Russen galten als schmutzig und diebisch, kurz als Barbaren. Beson- ders hasste Rückert die Polen, die er "eindeutschen" wollte. Der herauf- ziehende Panslawismus war Rü- ckerts dauerhaftes Schreckgespenst. Der alternde Rückert wütete auch gegen Dänemark, das sich im Kampf um Schleswig-Holstein 1848/49 und 1864 gegen den Deut- schen Bund stellte, anstatt nach Rückerts Wunsch zusammen mit anderen "germanischen" Völkern gegen die "Slawen" zu ziehen. Man sieht also: Keine Spur von Kosmo- politismus, aber viel aggressiver Nationalismus!
Dr. Max-Rainer Uhrig
97532 Zell