Dass er eine Nachtschicht hinter sich hat, sieht man ihm nicht an. Umeswaran Arunagirinathan steht in der Mitte des Raumes in der Walther-Rathenau-Realschule. Er lächelt, sein Blick wirkt offen, seine Augen strahlen. Er wird aus seinen Büchern lesen – zwei hat er bisher geschrieben, eins über seine Flucht aus Sri Lanka nach Deutschland und eins über sein Leben und seine Arbeit als Arzt.
Umes, wie man ihn nennen darf, weil der vollständige Name zu kompliziert ist, sagt: „Ich bin heute hier, um eine Geschichte zu erzählen. Eine von vielen Fluchtgeschichten. Meine Geschichte.“ Lange konnte er nicht darüber reden. Zu viel musste er noch verarbeiten. Erst nach ein paar Jahren war er dazu in der Lage.
Seine Geschichte erzählt er etwa achtzig Schülern, die ihm für eineinhalb Stunden zuhören, auf sehr einfühlsame Art, mit etwas Witz und genügend Ernsthaftigkeit. „Wie alt seid ihr?“, fragt er die Jugendlichen als erstes. „Dreizehn“, wiederholt er ihre Antwort. „Ich versuche mich zurückzuerinnern. Mit dreizehn war ich schon nicht mehr in der Schule.“ Die Worte lässt er für ein paar Sekunden im Raum stehen, wartet die irritierten Blicke ab, bevor er fortfährt. Die sechste Klasse beendet er als Zwölfjähriger, dann nehmen ihn seine Eltern von der Schule – aus Angst vor dem Krieg. Denn viele Kinder kommen vom Schulweg nicht mehr zurück, weil ihnen etwas passiert. Seine beiden Bücher hält er in der einen Hand, mit der anderen gestikuliert er ab und zu.
„Ich habe einfach nur geheult“
Es ist keine typische Lesung, in der der Autor eine Textpassage nach der anderen vorträgt. Umeswaran Arunagirinathan klappt seine Bücher oft zu, erzählt so aus seinem Leben. In Sri Lanka steht an einem Tag seine Mutter vor ihm und fragt: Würdest du nach Deutschland gehen? Der Onkel des damals Zwölfjährigen lebt in Hamburg. „Meine erste Frage war: Kann ich dort zur Schule gehen?“, erinnert er sich und lacht. „Es klingt, als wäre ich ein Streber, aber in der Schule hat man Freunde. Im Krieg war das so: Ich hatte niemanden zum Spielen. Das war langweilig.“ Der Junge willigt ein, seine Mutter organisiert einen Schlepper.
Heute unterscheidet der Arzt zwischen einem Schlepper und einem „Verbrecher“. „Ein Schlepper ist für mich jemand, der intelligent ist, der geografisches und politisches Wissen hat, der jemanden nach Deutschland bringt – illegal.“ Letzteres sei zwar auch das Ziel der Leute, die er Verbrecher nennt. „Sie wollen Geld, haben aber kein Wissen.“
Am Tag seiner Flucht wird ihm zum ersten Mal klar, dass er alleine nach Deutschland geht, dass seine Mutter nicht mitkommt. „Ich habe einfach nur geheult“, erinnert er sich. Weil der Bundesgrenzschutz bei einem weinenden Kind misstrauisch geworden wäre, muss er das unterdrücken. Als er über die Grenze vom Togo nach Ghana kommt, sagt er sich: „Wenn du nach Deutschland willst, musst du jetzt hier durch.“
Über den Titel seines zweiten Buches, „Der fremde Deutsche“, war er sich mit dem Verlag nicht einig. Fremd sei so ein negatives Wort, meinte der Verlag. Umeswaran Arunagirinathan sieht das anders. Das Wort beschreibe nur einen Zustand. „Wir sind in Deutschland noch nicht so weit. Es dauert vielleicht noch zwanzig, dreißig Jahre, bis die Leute mich als Deutschen sehen und nicht als Fremden.“ Als ein Mann ihn im Fitnessstudio mit „Du nix Sauna“ anspricht, fragt er: „Entschuldigung, haben Sie mit mir gesprochen?“ Und fügt nach der überraschten Antwort des Mannes hinzu: „Ja, wir sprechen in Hamburg auch Deutsch.“
Der Arzt behandelt einen Patienten trotz der Vorurteile gegen ihn weiter
Schon als Kind ist Arzt der Berufswunsch von Umeswaran Arunagirinathan. „Jeder von euch hat einen Traum – hoffe ich zumindest“, sagt er zu den Schülern. „Ich hatte als Kind auch einen Traum. Ich wollte Arzt werden.“ In Hamburg macht er sein Abitur, studiert danach Medizin. In den Vorlesungen versteht er nicht alles, muss für die Prüfungen mehr lernen als seine Kommilitonen. Manche Prüfungen muss er wiederholen. „Ich bin kein intelligenter Mensch. Aber ich hatte ein Ziel, ich war fleißig.“
Heute arbeitet Umeswaran Arunagirinathan im Klinikum in Bad Neustadt als Herzchirurg. Im Job hat er immer wieder mit Vorurteilen zu kämpfen. Ein Patient will sich nicht weiter von ihm behandeln lassen, weil er kein Deutscher ist. „Dass sein Verhalten gegen mich gerichtet war, schmerzte mich“, liest er vor. Doch der Arzt behält den Patienten. „Es ist mir egal, welche Vorurteile er mir gegenüber hat, ich werde ihn weiter behandeln.“