Am Ende des millionenfachen Sterbens, des größten Krieges, den die Welt bis dahin gesehen hatte, wird der Friedensvertrag unterzeichnet: im Schloss Versailles, am 28. Juni 1919. Fünf Veteranen nehmen im Spiegelsaal Aufstellung, um die deutsche Delegation mit Frankreichs Kriegselend zu konfrontieren. „Ihre Gesichter sind von Granatsplittern zerfurcht und entstellt“, sagt Hans Driesel zum Abschluss der Lesung in alten Maschinenraum der Brauerei.
„Die Versehrten stehen hier als am Leben gehaltene Kriegsdenkmäler, die sich in den barocken Spiegeln erbarmungslos vervielfältigen.“ Gueulés cassées nannte man diese Verstümmelten, eine weitere Neuerung des Schlachtfelds neben Kriegszitterern oder Gasblinden – ein Alptraum, der bis heute nicht mehr gewichen ist. „Die zerbrochenen Gesichter“ oder wörtlich im verrohten Jargon der Zeit, „die zerschlagenen Fressen“. Selbst Ministerpräsident Clemenceau, hartgesottener Verhandlungsführer Frankreichs, beginnt zu weinen. Aus dem politischen Akt gegen die Besiegten ist längst eine Anklage gegen die ganze Menschheit geworden.
„Hurra, hurra, auf nach Paris. Der Erste Weltkrieg – Geschichte, Briefe, Aufzeichnungen“, so nennt sich die Veranstaltung des Historischen Vereins Werneck, eine Art Collage, der es gelingt, die unterschiedlichsten Trümmerstücke des „Großen Kriegs“ zusammenzufügen. Da ist der abgedunkelte Maschinenraum selbst: Erinnerung an beginnende Übermacht der Technik über die Menschen, an Tanks, Flugzeuge, Minen, Flammenwerfer, MGs, Trommelfeuer, Gas. Oder einfach daran, dass Bier, in Frankreich der Billigwein Pinard, der Alkohol an sich, die Schrecken des Krieges abzumildern half.
Schwarzweißrote Fahnen dekorieren das Interieur wie Sargtücher. Da ist Erich Maria Remarques früh verfilmter Weltbestseller „Im Westen nichts Neues“ über das Schicksal des 18-jährigen Kriegsfreiwilligen Paul Bäumer. „Von allen Toten geschrieben“ heißt es auf der Titelseite. 1929 ein Skandalbuch, durch seinen bitteren Realismus. Schon vier Jahre später, in der NS-Zeit, wurde das Werk verbrannt (August Perk, reales Vorbild der Figur des Paul Bäumer, starb 1945 als „Wehrkraftszersetzer“ an den Folgen der Nazihaft).
„Wir kommen nur mit 80 Mann“, heißt es in der Feldküchen-Szene hinter der Front. Der „Küchenbulle“ hat für 150 Soldaten aufgetischt, aber siebzig sind schwer verwundet oder gefallen. Der Rest kann sich jetzt sattessen.
6000 Gefallene pro Tag gelten an der Westfront als normal. Man zankt sich um die Stiefel des beinamputierten, sterbenden Kameraden Kemmerich, Pferde krepieren schreiend, die Neuen machen sich im Dreck vor Angst in die Hosen: „das Kanonenfieber“.
Die Front: „ein unheimlicher Strudel.“ In der Schlüsselszene sticht der Gymnasiast auf den Buchdrucker Gerard Duval ein, französischer „Poilu“ und Familienvater, der ins gleiche Granatloch gesprungen ist und nun neben ihm langsam sein Leben ausröchelt. Der anonyme Massentod des „kleinen Mannes“ bekommt ein Gesicht. Die Großen, die Monarchen Willi, Niki, George, alle blutsverwandt, haben noch ein Jahr vor Kriegsausbruch einträchtig miteinander gefeiert.
„Hurra, hurra“, jubelt der reale bayerische Rekrut Adalbert, wie so viele, in der Kriegshysterie des Jahres 1914. „Mit deutschem Schwert und Gottvertrauen wollen wir die Welt erobern.“ Er fällt im November. Manfred Fuchs liest aus seinem Brief an den Onkel. Hans Driesel lässt neben dem früh desillusionierten Erich Kästner auch Ernst Jünger zu Wort kommen, den schöngeistigen Stoßtruppführer, der dem Grauen „in Stahlgewittern“ durch kühl-distanzierte Ästhetisierung zu entkommen versucht. Den Frontoffizier erinnern auf die Bäume gespießte Leichenteile an das Werk des „Rotrückigen Würgers“, des Vogels Neuntöter. Den Kriegslärm beschreibt der Literat als „langsames Takten des Walzwerks der Front“. Zwischendurch verfällt Jünger regelrecht dem Wahnsinn, als er sich aus Handknochen „geschmackvoll“ eine Zigarettenspitze anfertigen lassen will.
Dann sind da noch die „geerdeten“ Zeitzeugnisse von Kriegsteilnehmern aus der Marktgemeinde Werneck. 250 kommen um, unzählige werden verwundet. Fotografien und fromme Todesanzeigen scheinen an der Wand auf.
Der Mühlhausener Heinrich König berichtet aus dem Tagebuch seines Großvaters Georg König, Jahrgang 1899. „Nachts marschierten wir vor in Stellung. Da wurden wir, als wir in die Feuerzonen kamen, von den Engländern mit Granaten und Schrapnells gleich ordentlich empfangen“, heißt es im letzten Kriegsjahr. Der Zeuzlebener springt, aus Furcht vor den von oben herabprasselnden Kugelladungen der Schrapnells, bei „finsterer Nacht“ in ein Granatloch: „wo ich (…) bis an die Knie im Schlamm stak.“
Er sieht ein Kreuz, das zwei übereinandergenagelte Baumstämme waren, während die Geschosse rundherum zerbersten. Die ländliche Heimatfront klammert sich verzweifelt ans „schwache Gebet“, so im Briefwechsel zwischen den Geschwistern Walter aus Vasbühl, den Karin Stühler und Toni Hornung vorlesen: Drei Brüder, Bruno, Julian und Friedrich, sind im Krieg. „Es wird jetzt traurig in Vasbühl sein. Von der Kirchweih merke ich verdammt wenig“, schreibt Bruno im November 1915. Bruder Friedrich fällt im März bei Messines. Der zeitgleiche Brief seiner Schwester Anna („Gott schütze dich im Feindesland“, „Mutter weint sehr oft um euch“, „Es wäre ja sehr hart, wenn einer nicht mehr kommen sollte“) geht postwendend zurück.
Gegen Ende des Krieges herrscht der Hunger. „Nie mehr bum bum, bald Frieden“ meinen zwei Russen, die Ende 1917, beim Waffenstillstand an der Ostfront, mit den Deutschen fraternisieren – und Zucker gegen Tabak eintauschen wollen.
Winfried Hahner und Heinz Kruppa lesen weitere Briefe. „Das Erkennen“ nennt sich ein Gedicht von Georg König, der in englische Kriegsgefangenschaft geraten ist. Abgemagert kehrt er heim, der Freund, das Mädchen erkennt den einstigen „Prisoner“ nicht mehr, nur noch das Mutterauge.
„Der Abend sollte weder eine Anklage noch ein Bekenntnis sein“, sagt Heinz Kruppa am Ende, als Vorsitzender des Historischen Vereins, frei nach Remarque. „Er sollte nur den Versuch machen, über eine Generation zu berichten, die vom Krieg zerstört wurde, auch wenn sie seinen Granaten entkam.“