Das Erlebnis Vesperkirche beginnt in der Warteschlange. Es ist Mittwoch, 11.15 Uhr, die Reihe der Wartenden vor dem noch verschlossenen Holztor der St. Johannis-Kirche im Herzen Schweinfurts reicht bis zur Hälfte des Martin-Luther-Platzes. Diakon Norbert Holzheid begrüßt jeden mit Handschlag. „Es tut mir leid, dass wir die Tür noch nicht öffnen können, aber sonst passt der Ablauf drinnen nicht mehr.“ Drinnen bereiten die freiwilligen Helfer, Gastgeber genannt, alles vor, um die täglich 410 Essen anzurichten, zu servieren und alles, was dazu gehört, abzuwickeln.
2017 findet die Vesperkirche in Schweinfurt zum dritten Mal statt. Im Dezember 2013 hatte die St.-Johannis-Kirche den Zuschlag als erster Ausrichtungsort in Bayern bekommen, gestartet wurde ein gutes Jahr später. Inzwischen gibt es noch eine Vesperkirche in Nürnberg, doch die funktioniert etwas anders: Das Essen muss sich jeder selbst holen, bekommt es nicht per persönlicher Bedienung wie in Schweinfurt an den Tisch gebracht.
Wer kann, zahlt mehr als 1,50 Euro
Die Idee der Vesperkirche formulierte Diakonie-Chef Jochen Keßler-Rosa einst zur Einführung der Aktion: „Es gibt keine Randgruppen mehr, alle sind und leben wir in Schweinfurt.“ Auch im dritten Jahr bestätigt der Diakonie-Chef, dass aus dem Konzept Wirklichkeit geworden ist: „Es kommen tatsächlich die, die nix zu beißen haben, aber genauso der Firmenchef oder der Arbeiter im Ruhestand.“ Wer kann, zahlt mehr als 1,50 Euro für das Mittagsmenü.

Für Michael Lieske gehört die Wartezeit zum Gesamterlebnis. Er stellt sich jeden Tag in die Schlange, obwohl er zu den hauptamtlichen Mitarbeitern des Diakons gehört und einfacher ans Essen kommen könnte. „Kontakte knüpfen, mit denen ich sonst nie ins Gespräch kommen würde“, das ist es, was die drei Wochen Vesperkirche für Lieske ausmachen. Da ist er, der sonst für sich allein kocht, einig mit seinen Nachbarn in der Warteschlange: Hier hat er vom Karaoke-Singen bekannte Eleonore Franzreb-Öztürk und Herbert Scheidel getroffen.
Mit dem Landrat und dem Chefarzt am Tisch
Die Drei schwelgen in Erinnerungen an einprägsame Begegnungen in drei Jahren Vesperkirche: Mit dem Schweinfurter Landrat und seinen Mitarbeitern saßen sie einmal am Tisch, mit dem Chefarzt des Leopoldina-Krankenhauses oder mit Bankangestellten, denen sie sonst nur am Schalter gegenüberstehen. Mittagsbegegnungen, die es ohne Vesperkirche nicht gegeben hätte.

Halb zwölf durch. Die Warteschlange wandert zügig durch das geöffnete Tor. Ende Januar, zu Beginn der Vesperkirche 2017, hatte Lieske noch gefroren in der Warteschlange. Jetzt scheint die Sonne. Drinnen warten freundliche Gesichter, deren Besitzer keinen Unterschied machen, wie jung oder alt, sauber oder dreckig die Hand ist, die ihnen gereicht wird. Lieske und seine Freunde werden in die gleiche Kirchenbank gewiesen.
„Es geht schon in der Bank los“, sagt Herbert Scheidel, und meint das Kontakte knüpfen. Gespräche fallen leicht, wenn man gemeinsam das Treiben zwischen den gedeckten Tischen verfolgt. Scheidel hat eine bewährte Einstiegsfrage: „Waren Sie schon oft hier?“ Dann ist meist der Bann gebrochen. Manchmal fragt er auch nach dem Glauben. Der ist ihm wichtig. Scheidel hofft, dass er seine Schmerzen durch einen Fahrradunfall vor drei Jahren irgendwann loswerden wird.
Zum Mittagessen, wenn die Frau im Krankenhaus liegt
Neben Herbert Scheidel in der Bank liegen seine Krücken. Etwas weiter sitzt German Klopf aus Oberwerrn. Der 81-Jährige hat am Vormittag seine Frau für drei Tage ins Krankenhaus bringen müssen. Mehr als 50 Jahre sind sie verheiratet, getrennt waren sie selten.
„Ich habe heute ganz unruhig geschlafen“, gibt der Oberwerrner zu, und kommt ins Schwärmen über die Kochkünste seiner Frau, die aus den Resten vom Vortag die beste „Rumfort-Platte“ machen kann. Schon häufiger sind sie zu zweit in der Vesperkirche zum Mittagstisch gewesen. „Wir hatten die größten Gespräche hier.
“ Über Reisen nach Israel sprachen sie oder über medizinische Forschungen in Würzburg. Morgen, sagt er, morgen werde er selbst kochen. Vielleicht den „Quer-durch-den Garten“-Gemüsetopf. Schließlich kann er sich auch selbst versorgen, das will er klarstellen. „Nur nach vier Wochen“, sagt Klopf. „da müsste ich wieder von vorn anfangen.“
Um 13 Uhr kehrt drei Minuten Stille ein
Vier Plätze an einem Tisch werden frei. Familie Lipiec, Ewa, Michael und Tochter Natalia, setzen sich gemeinsam mit einer älteren Dame. Alle entscheiden sich für die Tagessuppe und das Cordon Bleu mit Kartoffelsalat und gegen das vegetarische Hauptgericht Grießnocken mit Zucchinigemüse.
Lipiecs wohnen schon seit zwei Jahren in Deutschland, erst in München, jetzt in Schweinfurt. Doch 2016 wussten sie noch nicht, was es auf sich hat mit den vielen Leuten, die sich jeden Mittag vor der Eingangstür von St. Johannis versammeln. Erst ihre Vermieterin erklärte ihnen kürzlich Regeln und Hintergrund der Vesperkirche, die nur zwei Minuten von ihrer Wohnung entfernt ist. Seit die Drei wissen, wie die Aktion funktioniert, waren sie schon mehrmals hier.
Ein Gongschlag hallt durch das Kirchenschiff. 13 Uhr. Gespräche verstummen. Zeit für das dreiminütige „Wort in der Mitte“, das katholische oder evangelische Seelsorger täglich sprechen. „Zur Ruhe kommen“, wünscht Donata Molinari von der Kanzel herab. Und: „Lassen Sie sich von Begegnungen am Herzen berühren.“
Ob Familie Lipiec die Vesperkirche 2018 auch wieder besuchen wird? „Wir gehen vielleicht bald zurück“, sagt Ewa Lipiec. Schmerzlich vermisst sie ihre Familie in Sandomierz, einer Kleinstadt 200 Kilometer von der ukrainischen Grenze. In Ost-Polen war Ewa Lipiec Lehrerin für Deutsch als Fremdsprache. Michael spricht nur bruchstückhaftes Deutsch. Auch deshalb klappt es mit keinem neuen guten Job. Sein Logistikstudium aus der Heimat erkennt kein Arbeitgeber an. Und von Fabrikjobs hat er genug.
Eine Mittagpause in der Vesperkirche wird zur Tradition

„Das Leben ist eine große Überraschung“, sagt Ewa Lipiec. „Vielleicht kommen wir ja einmal wieder.“ Beim Hinausgehen passiert die Familie den Stehtisch, an dem drei Männer mit Krawatte unterm Wintermantel ihren Kaffee trinken: Thomas Ganzinger, Jürgen Lindner und Jochen Herterich sind Kollegen und arbeiten in derselben Bankabteilung. Seit eineinhalb Stunden sind sie inzwischen in Mittagspause, zwei Kolleginnen haben sich schon wieder zur Arbeit verabschiedet. Doch die Drei trinken entspannt den letzten Rest Kaffee aus ihren Tassen – zur Vesperkirche bringt man Zeit mit, das steht fest. „Einmal im Jahr organisieren wir das, legen einen Termin fest und fragen Kollegen, wer mitkommt“, sagt Thomas Ganzinger.
Die Fünf ließen sich wie 2016 an zwei verschiedenen Tischen platzieren: „Heute haben wir mit Diakonie-Mitarbeitern gegessen“, sagt Ganzinger. Die Informationen zur geriatrischen Pflege, die er heute ganz nebenbei bekommen hat, werde er hoffentlich noch nicht so bald brauchen, scherzt er.
Bedürftige Menschen essen sonst im Theresienheim
Kaffee und hausgemachter Kuchen vom Buffet als Nachtisch sind im Obolus fürs Menü inklusive. „1,50 Euro ist ein guter Preis“, da ist sich eine Gruppe zweier Männer und einer Frau einig. Sie packen nach dem Essen ihren Bollerwagen draußen an der Kirchenmauer und rauchen 50 Meter weiter auf der Bank mit Blick auf die St. Johannis-Kirche eine Verdauungs-Zigarette.
Gleich geht es nach Hause, erzählen sie, neue Prospekte zum Austeilen in den Bollerwagen laden. Wohin sie nächste Woche zum Essen gehen, wenn die Vesperkirche vorbei ist? Wieder ins Theresienheim, das öffne dann wieder, ist drei Wochen lang geschlossen. Denn während der Zeit der Vesperkirche haben Menschen in Schweinfurt einen anderen Anlaufpunkt für warmes Essen und Zuwendung.