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SCHWANFELD: Wie der jüdische Landwirt Ludwig Gutmann aus Schwanfeld das KZ überlebte

SCHWANFELD

Wie der jüdische Landwirt Ludwig Gutmann aus Schwanfeld das KZ überlebte

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    In der „Weißen Hölle“ des KZ Salaspils: Der zweite Häftling von rechts ist wahrscheinlich der Schwanfelder Ludwig Gutmann, der Mann ganz rechts könnte sein späterer Fluchtgefährte Theodor Döllefeld aus Hessen sein. Das Bild wurde, vermutlich kurz vor Weihnachten 1941, durch eine SS-Propaganda-Kompanie aufgenommen.
    In der „Weißen Hölle“ des KZ Salaspils: Der zweite Häftling von rechts ist wahrscheinlich der Schwanfelder Ludwig Gutmann, der Mann ganz rechts könnte sein späterer Fluchtgefährte Theodor Döllefeld aus Hessen sein. Das Bild wurde, vermutlich kurz vor Weihnachten 1941, durch eine SS-Propaganda-Kompanie aufgenommen. Foto: Foto: Bundesarchiv Bild 101 III – Dürr – 056 – 04A

    Heulende Stalinorgeln, grollende Artillerie: Es herrscht „Götterdämmerung“ an diesem Mittwoch, den 28. Juni 1944. Seit Tagen rollt „Operation Bagration“, eine gigantische Offensive der Roten Armee, über die Ostfront hinweg. Bei Minsk haben sowjetische Kampfflieger das KZ Maly Trostinez angegriffen, die ehemalige Kolchose Karl Marx südöstlich der weißrussischen Hauptstadt.

    In der Nacht zum 29. Juni laufen mehrere Häftlinge hinaus in die Freiheit, verstecken sich in einem Roggenfeld. Unter den Flüchtlingen befinden sich Theodor Döllefeld, 48, ein Futtermittelhändler aus dem hessischen Rotenburg. Außerdem sein Leidensgenosse Ludwig Gutmann, 42, aus Schwanfeld.

    Bald hallen in Maly Trostinez Schüsse. Aus seinem Versteck im Niemandsland heraus sieht Gutmann das Lager in Flammen stehen: in Brand gesteckt durch die SS. Als Döllefeld nach einiger Zeit dorthin zurückkehrt, bietet sich ihm ein Bild des Grauens. Überall liegen die Leichen ermordeter Häftlinge. In der Kolchosscheune, wo sich einst die Koffer deportierter Juden gestapelt haben, wurden tausende Gefangene erschossen, zwischen Brennholz aufgeschichtet und mitsamt der Halle angezündet. Das „Tötungslager“ Maly Trostinez ist endgültig ein Ort des Todes geworden.

    Bis heute hält sich in Schwanfeld die Legende, Ludwig Gutmann, der letzte jüdische Viehhändler im Ort, hätte den Holocaust als „deutscher Soldat“ in Russland überlebt. Ein wahrer Kern könnte sein, dass die entflohenen Häftlinge Zwangsuniformen von SS-Personal getragen haben: ohne Rangabzeichen, aber mit Judensternen. Solche Livreen wären perfide Vereinnahmung und Fluchterschwernis im Partisanenland zugleich gewesen.

    Dank Mithilfe des Bundesarchivs Ludwigsburg, wo Gutmanns Aussagen aus den 1960er-Jahren lagern, sowie des Würzburger Johanna Stahl-Zentrums für jüdische Geschichte und Kultur Unterfranken ist es möglich, Licht ins Dunkel zu bringen. Der Franke hatte zunächst als „Schlüsselfigur“ zur Aufarbeitung von Verbrechen im „Auschwitz für die Juden Österreichs“ gegolten. Dabei hatte er betont, nicht selbst Zeuge von Massenmorden geworden zu sein: „Wer solche mit angesehen hat, lebt heute nicht mehr.“ Die Beamten vermerkten am Ende, dass die Aussagen für das Verfahren kaum von Bedeutung seien, da er vieles nur von „Hörensagen“ wisse.

    Die Stationen von Gutmanns Entrechtung in der NS-Diktatur lesen sich quälend schlicht: „Im Zusammenhang mit der Kristallnacht wurde ich im Jahre 1938 verhaftet. Ich war zunächst im Gefängnis in Schweinfurt inhaftiert. Nach 6 Tagen wurden ich nach Dachau verlegt.“ Der „Schutzhäftling“ Nummer 27 342, dessen Haus gerade beim Pogrom verwüstet worden war, hatte seinen Beruf, vielleicht mit Rücksicht auf die Nazi-Ideologie, als Landwirt angegeben.

    Ende November wurde Gutmann entlassen, ihm aber der Besitz in Schwanfeld „entzogen“. Nun kam er mit Ehefrau Therese und Sohn Gert nach Würzburg. Hier musste er als Straßenkehrer und Müllfahrer Zwangsdienst leisten. Am 27. November 1941 brach der erste Deportationszug von Würzburg nach Riga, Bahnhof Skirotava, auf. Hier, in Lettland, im KZ Jungfernhof, wurde die Familie getrennt.

    In den Rigaer Wäldern hatte die SS bereits 27 000 lettische Juden umgebracht: „Meine Frau und mein 10-jähriger Sohn (…) wurden dort am 26.3.1942 zusammen mit insgesamt 1632 Juden erschossen. Dies habe ich erfahren, als ich Ende April 1942 wieder für 10 Tage ins Lager Jungfernhof kam.“ Im eisigen Winter 1941/42 hatte sich Gutmann in der „Weißen Hölle“ von Salaspils (Kurtenhof) wiedergefunden. Hier wird Kriminal-Kommissar Gerhard Maywald, der das KZ im Auftrag von Rudolf Lange errichtet, auf ihn und Döllefeld aufmerksam. Anders als Polizeikommandeur Dr. Lange, Haupttäter der „Einsatzgruppe A“ und Teilnehmer der Wannseekonferenz im Januar, der ein jüdisches Opfer schon einmal persönlich den Treppenabsatz hinunter tritt, ist der gescheiterte Volksschullehrer Maywald eine ambivalente Figur: Ein funktionierender Mordorganisator, kein fanatischer Antisemit.

    Anfang Mai 1942 schickt der Obersturmführer den Viehexperten Gutmann sowie den Ackerbauspezialisten Döllefeld mit einem Rindertransport nach Trostinez: Das Gut soll der Versorgung der Okkupanten dienen. Von Minsk aus wird das Land im Partisanenkrieg terrorisiert, „bandenhörige“ Dörfer werden mitsamt Bewohnern verbrannt, Lebensmittel und Vieh erworben, requiriert oder geplündert. Die Tiere müssen von Gutmann bewertet, sortiert und versorgt werden. Der Viehdiebstahl ist hier Polizeiarbeit.

    In den umliegenden Wäldern beginnen Massenerschießungen an Einheimischen, aber auch Zehntausenden Juden aus Österreich, Deutschland, Polen, der Tschechoslowakei. Ebenso kommen Gaswagen zum Einsatz, Lkw, die ihre menschliche Fracht mit Abgasen ersticken – die Einheimischen nennen sie Schwarze Raben oder „Duschegubki“. „Es ist öfters vorgekommen, dass wir die Gaswagen an einem See im Lager auswaschen mussten“, erinnert sich Gutmann. Zwei Jahre verbringt er im KZ Maly Trostinez, Minsker Außenposten im Morduniversum der Nazis. Gutmann erwähnt Überlebende der Leidenszeit, darunter „Julchen“, die österreichische Köchin, die 1944 ebenfalls fliehen kann. Im Lager herrscht blanke Willkür: „1943 wurde ein Wiener Jude vor meinen Augen erschossen, weil er versucht hatte, einen Brief nach Wien zu schicken. Diese Exekution wurde von Ukrainern durchgeführt“, erinnert sich Augenzeuge Gutmann. „Die Angehörigen eines Arbeitskommandos, die Torf stachen, hatten bei Russen Kleider gegen Lebensmittel getauscht. Sie wurden deswegen erschossen.“

    Regelmäßig rollen am nahen Bahnhaltepunkt Züge mit Deportierten heran, die Opfer werden im Kiefernwald ermordet, Lautsprechermusik übertönt die Schüsse und Schreie. Arbeitskommandos verwerten die Beute in der Kleidersortierung. Auf dem Gelände, hinter dreifacher Umzäunung, darunter ein Elektrozaun, zusätzlich gesichert durch Hundelaufgänge, Wachtürme und MGs, entstehen Handwerksbetriebe, die für die Besatzer produzieren. In den Ställen und im Handel mit den Kolchose-Bauern schafft sich Viehwirt Gutmann ein notdürftiges Refugium.

    Der Galgen, Exekutionen, eine massive Selektion Ende 1943 und der Abtransport der meisten ins Vernichtungslager Majdanek erinnern die Fachleute daran, dass sie nur auf Widerruf am Leben sind. Am Ende bleiben von 600 Arbeitshäftlingen 112 Juden und 87 „Russen“ zurück, bewacht durch lettische, ukrainische und volksdeutsche Einheiten.

    Ein besonders grausiges Geschäft betreibt das „Sonderkommando 1005“, das Ende 1943 „Enterdungsaktionen“ überwacht: Die Massengräber von Blagowschtschina und Schaschkowka werden geöffnet, die Leichen gefleddert und verbrannt, die Knochen zermahlen, die sowjetischen Arbeiter getötet, um alle Spuren zu verwischen. Der aktuelle Forschungsstand rechnet dem Tötungslager 40 000 bis 65 000 Opfer zu. Vier Monate lang sieht Gutmann Rauch über dem Wald aufsteigen, und beliefert das „dauerbetrunkene Kommando“ im Lager mit Milch.

    Der entrechtete Deutsche hasst die Gutsherren nicht pauschal. Er unterscheidet zwischen eindeutigen Verbrechern und „Anständigen“. Sieht in einem Aufseher den relativ ungefährlichen „Schreier“, im Koch seiner volksdeutschen Bewacher „ein kleines Kerlchen“. Auch Gutskommandeur Maywald zählt er zu den Menschlicheren, der ein Auge zudrückt, als Gutmann ein Fohlen entwischt. Währenddessen Vorgesetzter Lange „innerhalb fünf Minuten vier Mann“ erschießt, die aus Hunger Suppenwürfel und Wurst organisiert haben. Später erkrankt der Kommissar an Typhus und wird versetzt. 1977 erhält Maywald in Hamburg eine milde Strafe von vier Jahren, als „Mordgehilfe“, nicht Täter, mangels Beweisen. Zu dieser Zeit arbeitet er in der Kosmetikbranche.

    Wie genau Döllefeld, Gutmann und insgesamt 20 Häftlinge 1944 entkommen, darüber kann nur spekuliert werden. In Schwanfeld heißt es, die Tür zur Baracke wäre vor dem finalen Massenmord offen gelassen worden. Die Flüchtlinge harren im Niemandsland aus, dann, am 3. Juli, rücken die Truppen des siegreichen Diktators an. Das NKWD, das vor dem Krieg bei der Kolchose selbst Exekutionen durchgeführt haben soll, bezichtigt die Überlebenden der Spionage.

    Stalins Geheimpolizei ist nervös: Ihre Gegenspieler schicken im Sommer 1944 tatsächlich Saboteure und sogar Attentäter hinter die feindlichen Linien. Die Freilassung jüdischer Häftlinge in SS-Uniformen könnte somit auch ein Ablenkungsmanöver gewesen sein: auf Kosten der „Sündenböcke“? Wer die Zwangsarbeit überlebt hat, gilt in der Sowjetunion ohnehin als Kollaborateur. Jeder dritte Weißrusse ist verhungert, erschossen, gehängt, verbrannt worden.

    Für die erneut Inhaftierten beginnt eine Odyssee durch das „Archipel Gulag“. Der Schwanfelder darf erst im August 1956, Döllefeld zwei Jahre später, ausreisen. Während der Rotenburger nach Kentucky emigriert, heiratet Gutmann erneut: Lisbeth Gutmann bringt zwei Kinder mit in die Ehe. Der Viehhändler lebt bis zu seinem Tod 1984 in seiner Heimatgemeinde. Das KZ Maly Trostinez und tausende Opfer hingegen sind für immer in den Flammen verschwunden. Demnächst soll eine Gedenkstätte an das halbvergessene Todeslager bei Minsk erinnern.

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