Sie heißen Dasher, Dancer, Prancer, Vixen, Comet, Cupid, Donner und Blitzen. Außerdem gibt es da auch noch einen Rudolph: die neun Rentiere am Schlitten von Santa Claus. Ursprünglich waren es nur acht, Rudolph kam erst später per Gedicht hinzu. So heißt es zumindest im Weihnachtslied-Klassiker „Rudolph the rednosed reindeer“, ein Evergreen des amerikanischen Songwriters Johnny Marks.
Das Lied vom kleinen Rentier, das von den anderen Tieren zunächst wegen seiner roten Nase verspottet und dann zum anerkannten „Scheinwerfer“ im Gespann wird, wurde 1949 zum musikalischen Welterfolg.
Seitdem sind lichtspendende Rentiere aus der Weihnachtsdeko nicht mehr wegzudenken, so auch bei Anna Kruppa aus Niederwerrn. Bei ihr steht seit vier Jahren ein besonders prachtvolles Exemplar vor dem Haus, aus dem Baumarkt, nebst anderer Deko – „ich schmücke einfach gerne den Garten“. Hauptsache, in die dunkle Vorweihnachtszeit kommt etwas Licht. „Schnee haben wir ja derzeit keinen.“
Die Familie kommt eigentlich aus der Gegend von Kattowitz und lebt schon seit vielen Jahren im Landkreis Schweinfurt. Das Schlittengespann leuchtet bei Kruppas jeweils nur bis zur Fernsehzeit, bis 20 Uhr: „Dann ist eh ja niemand mehr auf der Straße.“
Die gutmütigen Rentiere sind momentan überall anzutreffen, wo sie auf Garagendächern leuchten oder auf Armaturenbrettern mit dem Kopf wackeln.
Was der Heilige Nikolaus, ein mildtätiger Bischof aus der sonnigen Türkei, ausgerechnet mit einem Herdentier der Arktis zu tun haben soll, erschließt sich erst auf den zweiten Blick. Im Amerika der 1930er-Jahre war es der Werbe-Zeichner der Coca-Cola-Company, Haddon Hubbard Sundblom, der das Bild vom rot-weiß bemäntelten Rauschebart mit Rentierschlitten etabliert hat. Offenbar hat sich Auswanderersohn Sundblom da von Geschichten aus seiner alten Heimat, im schwedisch-finnisch-russischen Grenzgebiet, inspirieren lassen. Manche Völkerkundler gehen noch viel weiter: Demnach hat der fliegende Rentierschlitten mit uralten Schamanenriten zu tun, wie sie in Nordeuropa und Sibirien, bis in den fernen Osten hinein, praktiziert worden sind.
Die Weihnachtsfarben leiten sich demnach vom roten, weiß-gesprenkelten Fliegenpilz ab, in vielen archaischen Gesellschaften konsumierte Droge Nummer eins. Die wurde im Winter angeblich sackweise durch die Kamine der eingeschneiten Hütten gereicht. In getrocknetem oder geräuchertem Zustand kann der (giftige) Pilz intensive, aber nicht ganz ungefährliche Rauscherlebnisse erzeugen – einschließlich scheinbarer Flugerfahrungen, Lichteffekte oder überraschende Begegnungen mit allerhand Elfen, Feen und Zwergen. Bevorzugt soll der „Glückspilz“ unter immergrünen Nadelbäumen gedeihen. Rentiere wiederum fressen gerne Fliegenpilze und sind gegen seine Giftstoffe immun. Angeblich wurde in Lappland und Sibirien das natürliche Rentier-„Filtrat“ dann als überaus anregendes Kultgetränk benutzt, sozusagen. Wer's glaubt – oder wem's schmeckt.
Diese Herkunftstheorie zum rotnasigen Rentier ist nicht unumstritten. Vermutlich steckt ein Mischmasch vieler Mythen hinter dem überaus beschwingt und high („Ho, ho, ho“) über den Himmel schlitternden Santa Claus, dessen Heimat heute ganz offiziell am Nordpol, in Grönland, dem nördlichen Finnland oder Schweden verortet wird. Der mit achtbeinigem Zauberpferd über den Winterwald hinweg reitende, germanische Göttervater Wotan oder der rotbärtige Donnergott Thor, der mit einem von zwei, gelegentlich gebratenen und wiederbelebten Ziegenböcken gezogenen Wagen durch die Lüfte gebraust ist, dürfte ebenfalls Anteil am Bild vom fliegenden Geschenkebringer haben.
Aber auch Shou Xing, weißbärtiger, rotgewandeter chinesischer Gott des langen Lebens, kann fliegen und hat Geschenke und Hirsche im Schlepptau.
Eine urchristliche Botschaft gibt es natürlich auch noch: Der spätantike Bischof Nikolaus, aus der Gegend des heutigen Antalya, war ganz real für seine Kinderfreundlichkeit und Freigiebigkeit bekannt, außerdem Helfer von Schiffbrüchigen. Weihnachten ist einfach für alle da, und das Christkind, nicht der Fliegenpilz, steht heute im Mittelpunkt von allem.
Ansonsten: „In Polen feiert man heutzutage auch nicht anderes als bei uns“, weiß Anna Kruppa. Weihnachtsbaum inklusive. Die jungen Leute würden dort zum Beispiel auch immer häufiger Bares oder Gutscheine als Geschenke annehmen, sagt sie schmunzelnd. Das erleichtert nicht nur den Rentieren die Arbeit ungemein, sondern rentiert sich auch für die Beschenkten.