Offensichtlich will das Ehepaar an diesem Nachmittag in St. Johannis nur das Altarbild fotografieren. Dass sich rechts von ihnen gerade ein Mann verwandelt, nehmen sie erst einmal nicht wahr. Es ist Wotan, der blonde Hüne mit der Augenklappe aus Wagners „Ring der Nibelungen“. Langsam wachsen auf seiner Stirn dunkle Flecken, das blonde Haar wird schwarz, hängt strähnig ins Gesicht, blutiger Schorf und Schweiß überziehen das Gesicht – Don Pizarro aus Beethovens Oper „Fidelio“ erscheint, schrecklich entstellt nach einem Säureanschlag.
Plötzlich blinzelt er. Vielleicht ist es diese kleine, blitzschnelle Bewegung, die die Besucherin im Augenwinkel wahrnimmt. Sie zuckt, schaut nach rechts, stutzt, schaut noch einmal hin und lässt sich dann für ein paar Minuten auf den Videofilm ein, der auf einem Bildschirm zwischen zwei Epitaphplatten im Chorraum läuft. St. Johannis ist bis 14. September einer von drei Ausstellungsorten von „It's about time“, der großen Werkschau des Münchner Künstlers Christoph Brech (wir berichteten).
Brech hat den Videofilm im Auftrag der Bayerischen Staatsoper in München für deren „Porträtgalerie“ geschaffen. Es zeigt den Bariton Wolfgang Koch in sieben Rollen – sechs hat er bereits gesungen, die siebte, der Falstaff, ist eine Wunschrolle.
Koch blickt frontal in die Kamera, sein Blick geht starr geradeaus. Die Verwandlung geschieht so unmerklich, dass wir glauben, ein Foto vor uns zu sehen – bis Koch das erste mal blinzelt.
Langsam verschwindet Don Pizarros Wunde. Locken, Backenbart und dichte Augenbrauen wachsen, der Mund öffnet sich, Verdis Sir John Falstaff lächelt. Aber nicht lange. Kleider und Locken verblassen, langsam überzieht schwarzer Dreck das Gesicht und den nackten Oberkörper von Alberich, Richard Wagners Zwerg.
Spätestens an dieser Stelle fragen wir uns, wo die nächste Verwandlung beginnen wird. Diesmal an den Augen. Alberichs Blick wird irre, die Haare wachsen, Jochanaan aus der Strauss-Oper „Salome“ tritt auf. Nach ihm der weiß geschminkte Carlo Borromeo aus Hans Pfitzners Oper „Palestrina“.
Als sich ihm eine Sonnenbrille über die Augen legt und das Gewand golden glänzt, ist Mozarts Don Giovanni in einer sehr modernen Version auf dem Bildschirm. Aus der Brille wird eine Augenklappe und damit schließt sich nach acht Minuten der Kreis.
Wen haben wir gesehen? Einen Opernsänger, dessen Stimme wir nicht hören? Wo ist der Mensch Wolfgang Koch in diesem Porträt? Vielleicht sehen wir ihn für einen Moment, wenn er blinzeln oder schlucken muss oder seine Zunge zwischen den geschminkten Lippen hervorspitzt.
Diese kleinen menschlichen Regungen rühren an. Koch scheint trotz seiner dramatischen Masken, trotz seiner maskulinen Ausstrahlung auch verletzlich.
Das Porträt hat etwas sehr intimes und erstaunlich lebendiges neben den steinernen Bildnissen des längst verstorbenen Valentin von Münster, Ritter zu Niederwerrn und seiner Ehefrau Margaretha. Die beiden sind als wohlhabende Adelige dargestellt. Über ihnen hängt ein Ölbild von Martin Luther. Auch er wird nur in einer Rolle gezeigt, als Reformator und Religionsgründer. Was er sonst noch war, bleibt außen vor.
Dekan Oliver Bruckmann, der seine Affinität zur zeitgenössischen Kunst schon mehrmals bewiesen hat, ist fasziniert von Brechs ungewöhnlichem Porträt an genau dieser Stelle. Für ihn stellen sich in der Gegenüberstellung mit den anderen Gesichtern existenzielle Fragen: Auf welche Rolle sind wir nach unserem Tod festgelegt? Wie wollen wir zu Lebzeiten gesehen werden, welche Rollen spielen wir und was bleibt von uns?
Christoph Brech, „Porträt Wolfgang Koch“, St. Johannis, bis 14. September täglich 9 bis 17 Uhr geöffnet. In der Kunsthalle und im Salong des Kunstvereins sind Videofilme, Fotografien und Installationen des Künstlers zu sehen.