Der „Litera-Turm“ im Wallgraben-Ensemble ist voll besetzt. Viele Mitglieder der Schweinfurter Autorengruppe (SAG), OB Sebastian Remelé und Gattin Monika sind unter den Zuhörern. Erhart Kästner ist Thema, der umstrittene Dichter, Bibliothekar, Schriftsteller – geboren in Schweinfurt. „Gleich oberhalb des Walltürmchens, im Anwesen Unterer Wall 6“, sagt Hans Driesel, der den Abend gestaltet.
800 000-mal sind Kästners Werke verkauft worden, er wird also gelesen. Driesel spricht dennoch vom „vergessenen Schweinfurter Dichter“. Seine Familie war rasch weitergezogen, Schweinfurt in Biografien lange nicht als Geburtsort genannt. Gleichwohl: der Nachweis ist das Taufbuch der Johanniskirche.
Fünf Jahre lebte Kästner wohl nur in der Geburtsstadt. Bekennender Schweinfurter war er Zeit seines Lebens nicht. Warum? Driesel weiß (noch) keine Antwort. Von Kästners Frau Anita hatte er sich eine Erklärung erhofft. Zur Begegnung in Schweinfurt kommt es nicht mehr: Anita Kästner stirbt im Mai diesen Jahres, 90-jährig. Inwieweit der noch dünne Kontakt zu Tochter Nikoline Aufschluss gibt, wird sich weisen.
Im Litera-Turm beschreibt Driesel das Leben des Schriftstellers, zu dem er schon 1977 fand. „Ein Mann, der mit Worten die Stille hörbar machen kann“, sagt Driesel, der seine Begeisterung für Kästners blumige Sprachkunst nicht verhehlt. Driesel gibt Beispiele, etwa aus dem „Zeltbuch von Tumilad“ (1949) oder der „Stundentrommel vom Heiligen Berg Athos“ (1956). Von diesem Werk ist er besonders angetan. Als er die Insel besucht, findet Driesel sie so vor, wie Kästner sie „mir vor mein geistiges Auge hingestellt hat“.
Freilich: Die Schattenseite spart der Rezitator nicht aus. Als Soldat in Griechenland soll Kästner für die Wehrmacht über das okkupierte Griechenland berichten. „Er schrieb nach dem Gusto, wie man das in Berlin gerne hörte“, sagt Driesel und liest entsprechende Passagen vor. Im Erstling „Griechenland“ von 1943 ist Kästner auf brauner Linie mit markigen Passagen über blonde Kämpfer, die sich – badehosenfrei – in Griechenlands Salzflut stürzen. Wir erfahren über die Rückkehr der „Nordmänner“ in den Süden oder die „blutsmäßige Tugend der Wehrhaftigkeit“.
Driesel greift zum ein Jahr vor Kästners Tod 1974 entstandenen Buch „Aufstand der Dinge“, in dem sich der Schöngeist nicht durchringen kann, seine Verherrlichungen zur Nazizeit zu erklären, sich davon zu distanzieren, bedauert Driesel. Im Gegenteil: Kästner bevorzugt es, „über das Dunkle zu schweigen“, verpackt das sogar in den abstrusen Vergleich von Kindern, die wegrennen, als ihr Spielkamerad im Weiher ertrinkt. Deshalb ist Kästner umstritten. Der Autor Arnd Strohmeyer etwa hat zwei Bücher gegen Kästner verfasst. Driesel zitiert daraus.
Andererseits: Die Kreter waren Kästner wohlgesinnt. Als der „Dichter im Waffenrock“ 1943 bei einem Fest in Samaria weilt, steht er unter dem heiligen Gastrecht bei Familie Wiglis. Der Soldat erhält sicheres Geleit zurück, erfährt, dass während des Festes eine Partisanen-Aktion gegen die Besatzer stattgefunden hat (der eine noch grausamere Vergeltungsaktion der Deutschen folgt).
Nach dem Krieg wird sich Kästner revanchieren, als einer der 15 Wiglis-Kinder, Giorgios, in einen tragischen Fall von Blutrache verwickelt und wegen Mordes zum Tod verurteilt wird. Kästner setzt sich für seinen Lebensretter ein, veröffentlicht 1956 in der FAZ einen offenen Brief an Königin Friederike von Griechenland – Tochter seines Brötchengebers in Wolfenbüttel, wo er die Herzog August Bibliothek leitet.
In der Einrichtung internationalen Rangs war er mittelbarer Nachfolger von Geistesgrößen wie Leibnitz und Lessing, Kästner, der zuvor Sekretär und Vertrauter des auch nicht lupenreinen Schriftstellers Gerhard Hauptmann (1862 bis 1946) war.
Sein Brief, ein Musterbeispiel eines pathetischen Manipulationsversuchs, bewirkt – mit Unterstützung des damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss –, dass Giorgios nach 14 Haftjahren freikommt.
Kästner stirbt am 3. Februar 1974 in Staufen. In Athos-Klöstern läuten die Glocken. Ein Mönch reist als Delegierter der Athos-Republik in den Breisgau, legt einen Kranz nieder.
Ans Ende stellt Driesel die aktuelle Nachricht: Dem Ex-NSDAP-Mitglied, das aber auch Mitglied des PEN-Zentrums und der Akademie der Künste in Berlin ist, werden die Stadt Staufen und die Literarischen Museen und Gedenkstätten des Landes Baden-Württemberg eine Gedenkstätte einrichten. Neben Erhart Kästner auch für den 1971 von der DDR entlassenen Schriftsteller Peter Huchel. Die in jeder Hinsicht konträren Literaten waren Freunde geworden.
Und Schweinfurt? Driesel hatte 2010 – allerdings noch in Unkenntnis der Nazischriften – eine Gedenktafel am Geburtshaus Kästners angeregt. Bei der Stadt war man anfangs angetan, später ernüchtert, als ein Gutachter sich die Kriegsausgaben besorgt hatte. Er befürwortete gleichwohl ein Tafel, die anzubringen abgelehnt wurde.
Unter Hinweis auf die Gedenkstätte in Baden Württemberg meinte Driesel nun, dass „Schweinfurt mit einem Täfelchen in nicht allzu schlechter Gesellschaft wäre“. Man kann dies als neue Anregung deuten, wenngleich Driesel sein Bedauern wiederholt, dass Kästner sein hohes schriftstellerisches Talent leider auch in den Dienst der Nazi-Ideologie gestellt hat. Die steht auch im Mittelpunkt einer leidenschaftlichen Diskussion im Litera-Turm.
Die SAG-Autoren, die sich zu Wort melden, sehen Kästner überaus kritisch, weil er die Naziverbrechen auch später verdrängt habe, nie ein Wort des Bedauerns aus seiner Feder geflossen sei. Hans-Peter Zwißler erfährt keinen Widerspruch, als er Kästners Haltung unredlich nennt. Es wird aber auch gefragt, ob aus Museen und Bibliotheken dann nicht auch andere Autoren verbannt werden müssten. Dennoch: Wenn die Schweinfurter Autoren Gradmesser sind, wird Kästner in Schweinfurt wohl der vergessene Dichter bleiben.