Da saß einer sein Leben lang im Rollstuhl, überstand lebensgefährliche Krankheiten, hatte in den letzten Jahren kaum Geld, um zu überleben und überschrieb seine Autobiografie trotzdem mit „Glück gehabt.“ Menschen, die Klaus Kreuzeder gut kannten, sagen, sie hätten viel von ihm gelernt, vor allem eines: nicht jammern. Am Montag ist der weltbekannte Saxophonist, wie berichtet, im Alter von 64 Jahren in seiner Münchner Wohnung gestorben.
Kreuzeder hat mit den Großen des Musikgeschäftes auf der Bühne – nein nicht gestanden, sondern im Rollstuhl gesessen. Der Anfang seiner Weltkarriere aber liegt in Sulzheim im Landkreis Schweinfurt. Dort hat er ab 1974 neun Jahre lang mit den Bandkollegen von AERA, mit deren Frauen und Kindern gelebt. Der Begriff der Inklusion lag damals noch in weiter Ferne. Aber wie die Dorfgemeinschaft auf den langhaarigen Musiker im Rollstuhl reagierte, wie sie ihn selbstverständlich integrierten, das kommt dem heute angestrebten Ziel der „selbstverständlichen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben“ schon sehr nahe.
„Es gab wohl kaum einen Sulzheimer, der Ede damals nicht irgendwelche Stufen hoch gehievt hat“, sagt Lutz Oldemeier. Kreuzeder hatte den Schlagzeuger 1976 zu AERA und damit in die alte Marienapotheke nach Sulzheim geholt. Das Haus gehörte einem irischen Millionär, der es kostenlos zur Verfügung stellte. Einzige Auflage: es mussten Musiker sein. Die Künstler Herman de Vries und Waldemar Kuhn vermittelten das Anwesen an AERA. Zehn Jahre lang lebten die Musiker mit ihren Frauen und Kindern wie in einer großen Familie.
Klaus „Ede“ Kreuzeder wohnte im Erdgeschoss neben der Küche. Sein Zimmer war gleichzeitig das Büro. Hier saß er stundenlang und organisierte am Telefon die nächsten Auftritte. „Wir waren alle Hippies, aber Ede und Lutz wussten, wo es lang geht“, sagt Sara Oldemeier. Musikalisch und finanziell. AERA trat in ganz Europa auf und Kreuzeder war immer dabei. „Wo wir hinkamen, kam er auch hin“, sagt Lutz Oldemeier. Gemeinsam hievten sie ihn auf jede Bühne, gemeinsam trugen sie ihn in einer Silvesternacht auf den Aussichtsturm am Zabelstein, gemeinsam hoben sie ihn in ihren Tourbus. Den riesigen, alten Hanomag hatte die Gruppe den Nürnberger Symphonikern abgekauft.
In Sulzheim war Kreuzeder weitgehend autark, rollte alleine in die Dorfkneipe – irgendjemand fand sich immer, der ihm die zwei Stufen hoch half. Nur bei einer Sache brauchte er Hilfe: die Toilette in der Apotheke lag im ersten Stock. Also trugen ihn zwei aus der „Familie“ samt Rollstuhl nach oben – oft waren das die Frauen. Wenn er wieder runter wollte, sang oder pfiff er ein bestimmtes Lied. „Manchmal haben wir ihn aber vergessen“, sagt Sara Oldemeier, „weil wir einfach vergessen haben, dass er nicht gehen konnte“.
Klaus Kreuzeder konnte nicht mehr gehen, seit er eineinhalb Jahre alt war. Den Grund kennen viele, weil er später das bekannteste Opfer dieser Krankheit war: Poliomyelitis, kurz Polio, auch Kinderlähmung genannt. Trotzdem besuchte der Junge Regelschulen. Um seine schwache Atemmuskulatur zu trainieren, lernte er Flöte spielen. Als großer Fan des Jazzers Sidney Bechet wollte er unbedingt Saxophon spielen. Mit 16 war es soweit. „Von dem Moment an, als ich endlich mein eigenes Saxophon hatte, war es das wichtigste in meinem Leben“, schrieb er in seiner 2010 erschienen Autobiografie „Glück gehabt“.
Klaus Kreuzeder sprach nicht nur in diesem Buch, sondern auch bei den späten Konzerten mit Lesungen offen über sein Leiden – immer mit erstaunlicher Gelassenheit. 1970 war seine Wirbelsäule so verkrümmt, dass er mehrmals operiert werden musste und für Monate zum Liegen verurteilt war. Danach endlich die große Freiheit, Jurastudium in Erlangen, Studentenwohnheim, nebenbei spielte er in verschiedenen Formationen. Er lernte Steve Leistner kennen, der sein Freund, später Manager und Produzent wurde. Im dritten Semester bekam Kreuzeder das Angebot, als Profi bei AERA einzusteigen.
1974 landete die Gruppe samt Anhang in Sulzheim. Einen Sommer lang renovierten die Musiker das alte Anwesen mit dem verwilderten Garten und der großen Scheune. Die ersten Jahre waren hart, manchmal reichte das Geld nur für Brot und Margarine. Alle Einnahmen wanderten in einen Topf, jeder bekam Taschengeld. Manchmal halfen nur noch die elterlichen Zuwendungen, schrieb Klaus Kreuzeder. Und ohne das Gemüse von Gärtner Gerfried, der mit im Haus lebte und das Holzrecht, das auf dem Haus lag, wäre es manchmal noch härter gewesen.
Immer wieder änderte sich die Besetzung. Insgesamt waren rund 70 Musiker am Projekt AERA beteiligt und viele lebten zeitweise mit Anhang in Sulzheim. „Ede war so etwas wie der Chef“, sagt Sara Oldemeier. Er hielt die Gruppe zusammen, er war der Manager, er prägte die Formation auch musikalisch mit seiner speziellen Art Saxophon zu spielen. Trotz seiner Krankheit konnte er dank jahrelangem Training sehr lange den Ton halten. AERA wurde die beste Jazz-Rock-Band Deutschlands mit 105 Konzerten im Rekordjahr 1979.
Wie es zum „Aus“ der Band und einem riesigen Schuldenberg kam, beschreibt Kreuzeder in seinem Buch. 1983 zog er nach München, schlug sich als Straßenmusiker durch. Ein Jahr später kam der Durchbruch mit den Auftritten mit Stevie Wonder. Es folgten Konzerte mit Sting, Gianna Nannini, Al Jarreau, Auftritte bei den Paralympics in Atlanta und Sydney. Auch in Franken war er oft zu hören. Bei seinem letzten Gig in der Disharmonie in Schweinfurt, als er aus seiner Autobiografie vorlas, berichtete er von der schweren Lungenentzündung im Jahr davor, die ihn fast das Leben gekostet hätte.
Die Atemprobleme nahmen zu. Die letzten Jahre kam er kaum noch ohne Sauerstoffmaske aus. Sein letztes Konzert als Sopran-Saxophonist gab Kreuzeder im Oktober 2011 in Brüssel. 2012 mussten alle Auftritte abgesagt werden. 2013 erklärte er seine musikalische Laufbahn als beendet. Ein schwerer Schritt. Trotzdem sagte er, er habe nie das Gefühl gehabt, vom Schicksal benachteiligt zu sein.