Am Anfang stand die Wut. Gunda Fleischhauer hatte mal wieder einen Artikel über die vermeintlich zu hohen Kosten der Heimerziehung hierzulande gelesen. Von da an reifte in der Leiterin des Erich Kästner Kinderdorfs (nach Kästners Wunsch ohne Bindestriche) die Idee, die Öffentlichkeit aufzuklären, was eigentlich alles hinter Heimerziehung steckt.
Doch schon in den Anfängen bemerkte Gunda Fleischhauer, dass sie sich beim Schreiben in dieselbe Spagat-Situation manövrierte, der sie auch im Alltag im Kinderdorf wieder und wieder begegnet. Auf der einen Seite der Wunsch, die Umwelt über die eigene Arbeit zu informieren, auf der anderen die Intimsphäre der Betroffenen, der Kinder, die in die Steinmühle kommen.
Das war vor fünf Jahren. Seit dieser Zeit ist ganz langsam und behutsam das Buch „Ich weine und ich lache Tränen – von Lebensräumen und Lebensträumen traumatisierter Kinder“ entstanden. Es ist kein Sachbuch geworden wie zuerst geplant, sondern eher eine belletristisch erzählte Sammlung von Kinderschicksalen. Am Anfang eines jeden Kapitels steht – sozusagen als roter Faden – ein Gedicht oder Zitat Erich Kästners, einer der ersten deutschen Autoren, die psychische Befindlichkeiten von Kindern ernst genommen haben.
Die Geschichten berichten über die schlimmen Umstände, unter denen Kinder in die Steinmühle kommen, über „kleine Menschen, deren Wille zum Leben nicht mehr erkennbar ist“, wie Gunda Fleischhauer ganz zu Beginn schreibt. Die Kinder sind quasi nicht anwesend, nichts erscheint ihnen wichtig.
Trauma-Therapie
Die erste Zeit im Kinderdorf ist aber ganz wichtig. Wie reagieren Kinder und warum so und nicht anders? Da ist der Junge, der als Kind total verwahrlost ins Haus kommt und der auch im fortgeschrittenen Alter immer noch ins Bett macht. Nach und nach kommt zutage, dass er zuhause nur wahrgenommen wurde, wenn er in die Hose gemacht hatte. Im Kinderdorf geht man mit einer Trauma-Therapie dagegen vor. Es geht darum, ihm zu zeigen, dass er wichtig ist und dass er jetzt in einer neuen Zeit lebt.
Andere Neuankömmlinge haben immer Hunger, weil sie nicht glauben, dass es auch morgen noch etwas zu essen gibt. Hier herrscht noch das „alte Gefühl, dass sich niemand um mich kümmert“, beschreibt Gunda Fleischhauer diese Situation. Dieses Gefühl ist nicht falsch, denn es gründet auf der alten Erfahrung, „Ein solches Gefühl zu löschen ist manchmal nicht mehr möglich“, hat die Autorin erkannt.
Ein anderer Spagat: Wie weit darf Wärme gehen im Zeitalter massenhaft aufgedeckter Missbrauchsfälle? Darf ein Erzieher mit in das Bad, darf ein Kind in das Bett des Erziehers, wenn es vor Angst nicht schlafen kann, Dinge, die für leibliche Eltern überhaupt keine Frage sind?
In „Ich weine und ich lache Tränen“ geht es nicht um eine Generalabrechnung mit der Gesellschaft. „Wir sind ja selbst ein Teil der Gesellschaft. Aber wir verstehen uns als der Teil, der versucht, das wieder gut zu machen, was andere kaputt gemacht haben“, sagt die Heilpädagogin und Therapeutin. Die Kinder in der Steinmühle – und das ist das Besondere am Konzept dort – leben wie in einer Familie mit immer denselben Bezugspersonen. Hier liegt der große Unterschied zum Schichtdienst, wo sich die Betreuer im ständigen Wechsel um ihre Schützlinge kümmern.
Gunda Fleischhauer weiß aber auch, dass ihr Kinderdorf trotz alledem kein Wolkenkuckucksheim ist. Ihre Geschichten erzählt sie meist zu Ende, das heißt bis zum Zeitpunkt, wo die Jugendlichen das Haus verlassen und hinaus ins Leben treten. In diesem Leben stehen manchmal erfolgreiche Menschen, manchmal aber auch solche, die es nicht schaffen werden, trotz aller Bemühungen. Wo es keinen Schaden anrichten kann, sind die Lebensbilder real wiedergegeben, bei problematischen Geschichten verfremdet die Autorin den Gang der Dinge, ändert natürlich auch die Namen. „Ich will niemanden treffen, auch Väter und Mütter nicht“, sagt die 68-Jährige.
Kinder und Jugendliche aus der Steinmühle kommen auch selbst zu Wort, etwa, wenn sie Antwort auf die Frage geben, was für sie Bildung oder Heimat bedeutet. Natürlich haben sie über all die Jahre mitbekommen, dass Gunda Fleischhauer dabei ist, ein Buch zu schreiben. Ein Kind fragte einmal: „Schreibst du auch mal ein Buch, in dem ich vorkomme?“
Symbolträchtige Bilder
Die Bebilderung ist oft symbolträchtig. Da ist zum Beispiel ein Löwenzahn, der auf kargem Untergrund Wurzeln schlägt. Und neben den Kästner-Texten gibt es noch andere Begleiter in diesem Buch, nämlich Lieder von Rolf Zuckowski, der das Kinderdorf seit langem unterstützt.
Gunda Fleischhauers Buch ist mit viel Liebe zum Kind geschrieben. Es zeigt aber auch die andere, die lieblose Seite. Es zeigt, welche entsetzlichen Wunden auch heute noch in Kinderpsychen geschlagen werden. Wer einmal darin zu lesen begonnen hat, wird das Buch so schnell nicht mehr aus der Hand legen.
„Ich weine und ich lache Tränen“ ist im Westkreuz-Verlag Berlin/Bonn erschienen (ISBN 978-3-939721-23-9). Es hat 220 Seiten mit vielen farbigen Fotos und ist für 19,90 Euro im Buchhandel erhältlich.