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Zwangsarbeit in Schweinfurt: Mindestens 82 Zwangsarbeiterinnen wurden Mutter

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Zwangsarbeit in Schweinfurt: Mindestens 82 Zwangsarbeiterinnen wurden Mutter

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    Ihre Geschichte geht unter die Haut. Ljubow Semliana ist 19, lebt mit ihrer Familie in einem Dorf bei Charkow in der Ukraine. Die Front ist nah. An einem nicht genau datierten Tag 1943 werden die Bewohner vor einer anrückenden SS-Einheit gewarnt. Ihr Vater, 53, glaubt nicht, dass sie alles auf ihrem Weg verbrennen, die Menschen ermorden. Es seien doch nur Ältere und Kinder im Dorf, sagt er und lehnt die angeratene Flucht ab. Seine Tochter Ljubow fordert er dennoch „für alle Fälle“ auf, sich auf dem Dachboden zu verstecken.

    Bald darauf erscheint die SS, befiehlt allen herauszutreten. Ljubows Vater, ihre Mutter (53) und der Bruder (14) folgen. Die Frage, ob niemand mehr im Haus sei, verneint der Vater. „Darauf erfolgte Maschinengewehrfeuer und das Haus wurde angezündet“. Aufgeschrieben hat das die heute 86-Jährige für die Schweinfurter „Initiative gegen das Vergessen“.

    Nach Recherchen der achtköpfigen Gruppe hat es in Schweinfurt bis zu 12 000 Zwangsarbeiter gegeben. Über 1000 sind mittlerweile namentlich bekannt. Sie mussten die kriegswichtige Kugellager-Fertigung gegen ihren Willen am Laufen halten. Viele der verschleppten, jungen Frauen bekamen in der Gefangenschaft Kinder, wie auch Ljubow. Im Stadtarchiv Schweinfurt befinden sich Geburtsanzeigen von Zwangsarbeiterinnen. Über 82 von 1942 bis 1945 in Schweinfurt geborene Kinder sind nachweisbar. Es dürften einige mehr sein. Hinzukommen die noch in Schweinfurt gezeugten, erst nach der Rückkehr geborenen Kinder.

    Im Gegensatz zu den polnischen und russischen Behörden, die Namen und Daten nicht zur Verfügung stellten, gelang es der Disharmonie-Initiative mit Unterstützung der Ukrainischen Nationalstiftung, Kontakt zu ehemaligen Zwangsarbeiterinnen aus der Ukraine herzustellen. 200 Fragebogen wurden an die Frauen geschickt, die in Schweinfurt in der Industrie und der Landwirtschaft arbeiten mussten.

    62 Frauen antworteten. Eine davon ist Ljubow. Sie berichtete darin auch von dem beschriebenen Schrecken in ihrem Heimatdorf vor dem Abtransport nach Deutschland.

    Weil die SS das Haus angezündet hat, habe sie den Dachboden verlassen müssen und durch ein Fenster gesehen, dass ihre ganze Familie ermordet auf dem Boden lag. „Der Tod erwartete mich entweder im brennenden Haus oder beim Verlassen desselben“, notiert sie.

    Die 86-Jährige schreibt, sich nicht mehr erinnern zu können, wie lange sie sich im brennenden Haus aufgehalten habe. Als eine brennende Zimmerdecke einzustürzen begann, habe sie eine Decke in Wasser getaucht, sich eingewickelt und sei „durchs Feuer hinausgegangen. Es war niemand mehr da“.

    Am nächsten Morgen seien „unsere Truppen“ gekommen. „Mir wurde geholfen, die Leichen meiner Angehörigen in den Keller zu schleppen“. Sie nahm eine Nachbarin zu sich. „Als die Front wieder durch das Dorf führte, schickte mich der Dorfälteste nach Deutschland“.

    Die damals 19-Jährige kam nach Schweinfurt, wo sie Zwangsarbeit verrichten musste. Wo wusste sie nicht mehr. Ihr Bericht „vom Barackenlager am Fluß Main“, dem frühen Aufstehen und dem täglichen Fußmarsch unter Bewachung deckt sich aber mit so vielen Schilderungen anderer Zwangsarbeiter.

    Für jede Baracke war ein Zwangsarbeiter als „Feuerwehrmann“ für Luftangriffe zuständig, der die Baracken bei Angriffen aufschloss, damit die Frauen weglaufen konnten. Der Feuerwehrmann ihrer Baracke hieß Iwan, ein Landsmann. Sie freundete sich mit ihm an. Dass sie schwanger war, habe sie selbst erst begriffen, als es nicht mehr zu verbergen war. Der Lagerleiter sei wütend gewesen, habe gesagt, „ich soll am nächsten Morgen nicht zur Arbeit gehen“.

    Als anderntags alle gegangen waren, sei ein Arzt gekommen und „erklärte mir nichts“. Von morgens bis Mittag seien Wehen erzeugt worden.

    Als sich die Gebärmutter geöffnet habe, „drückten sie es heraus und erstickten es. Ich sah, dass es ein Junge war, ein hübsches Kind, aber es atmete nicht mehr“. Am nächsten Morgen musste die 19-Jährige wieder arbeiten. Als Iwan davon erfuhr, seien ihm Tränen gekommen, er hatte mit einem Wachmann vereinbart, dass er das Kind zu sich aufnimmt.

    1946: Ljubow ist wieder zu Hause, bringt ihr zweites Kind zur Welt. Boris wurde noch in Schweinfurt gezeugt. Der Vater ist ebenfalls Iwan. „Aber das Leben wollte es, dass ich mit meinem Kind alleine bleibe“, schreibt die 86-Jährige. Einige Zeit später findet sie einen Mann, der ihren Sohn Boris wie sein eigenes Kind annimmt, sie heiratet und bekommt mit ihm zwei weitere Kinder.

    Bei einer Reise – 2007 – in die Ukraine haben Ulrike Cebulla und Dorothee Seidlmayer sieben weitere Frauen und teilweise deren Kinder interviewt. Darunter Iwan Kulisch, heute 65 Jahre alt. Er ist Landwirt, lebt bei Kiew. Laut Geburtsurkunde wurde er im „Städtischen Krankenhaus Schweinfurt“ geboren, in Wahrheit war es eine Baracke im Lager der Vereinigten Kugellagerwerke (VKF) am Main, der heutigen Firma SKF. Seine Mutter Natalja Kulisch (91) berichtete beim Besuch, dass die Kinder in „einem großen Kasten“, eine Art Laufstall untergebracht waren, betreut von anderen, schwangeren Müttern. Sie war 23, als sie 1942 auf offener Straße entführt wurde. An ihren „Arbeitgeber“ VKF und an das Barackenlager am Main erinnerte sie sich genau.

    Auch Daria Sagorska (83) arbeitete als 15-jähriges Mädchen bei VKF. Sie bekam zwar kein Kind in Schweinfurt, überlebte aber in der Baracke von Kulisch. Daria konnte sich genau an Iwans Geburt erinnern, sah ihn beim Besuch der Schweinfurter Frauen erstmals wieder. Dass Mutter Natalja und Sohn Iwan nur wenige Dörfer entfernt leben, erfuhr sie 62 Jahre nach Kriegsende.

    Die Schweinfurter „Initiative gegen das Vergessen“ forscht seit zwei Jahrzehnten zum Thema Zwangsarbeit und will nun einen Gedenkort schaffen, „der an diese vielen tausend Menschen dauerhaft erinnert“, formuliert es Sprecher Klaus Hofmann. Der soll im Bereich des ehemaligen Kugelfischer-Lagers Mittlere Weiden am Main auf Oberndorfer Gemarkung entstehen.

    Außerdem ist ein offizieller Gedenkweg entlang der ehemaligen Lager der Betriebe in Arbeit. An jedem der fünf ehemaligen Lager soll eine Erinnerungstafel mit Fakten stehen: Welcher Betrieb, wie viele Zwangsarbeiter gab es, welcher Kategorie waren sie, Fotos, Dokumente, Aussagen und ein konkretes Schicksal soll jeweils kurz beschrieben werden.

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