Wer die Räumlichkeiten der Evangelischen Studentengemeinde Würzburg am Friedrich-Ebert-Ring betritt, wähnt sich zunächst in einem Studentenheim und nicht in kirchlichen Gemeinderäumen. An den Wänden hängen schwarz-weiß stilisierte Fotografien, sie zeigen Menschen in Bangkok oder den Frankfurter Hauptbahnhof. Aufgenommen wurden sie von einem Studenten der FHWS. Daneben hängt ein Plakat, das für eine Veranstaltungsreihe mit dem Thema Migration und Flucht wirbt. Außerdem Flyer, die auf eine Foodsharing-Aktion aufmerksam machen - Themen, die Studierende eben interessieren.
"Wir machen hier keine klassische Kirchenarbeit, es geht um Studierende und um Menschen, die an der Uni arbeiten", sagt Irene Albrecht, dienstälteste Mitarbeiterin der ESG. Studierende seien mit speziellen Herausforderungen konfrontiert, befänden sich in einer Umbruchphase des Lebens. Die erste eigene Wohnung, ein eigener Lebensalltag, der organisiert werden müsste, dazu Leistungsdruck in der Uni.
Beratung, Seelsorge, Begleitung
Um den Anforderungen dieser Zielgruppe gerecht zu werden, bietet die ESG vier verschiedene grundlegende Angebote an: Beratung, Seelsorge und Begleitung durch hauptamtliche Pfarrer sowie ehrenamtliche psychologische Beratung. Vortrags- und Gesprächsabende sowie Exkursionen und Freizeiten. Dazu thematisch vielfältige Arbeitskreise, die von Studierenden selbstständig verantwortet werden. Insgesamt zugrunde liegt den Angeboten gemeinsam gelebter Glauben und geistliches Leben, etwa in Form von Gottesdiensten und Meditationen.
Um dabei stets dem studentischen Zeitgeist zu entsprechen, machte die ESG in den vergangenen 70 Jahren bei ihren Angeboten und ihrem Selbstverständnis einen kontinuierlichen Wandel durch. Während etwa im Semesterprogramm des Gründungsjahres 1949 noch ein Singkreis angeboten wird, um "singend im Dienste der Verkündung der frohen Botschaft" zu stehen, heißt es im Jahr der Studentenrevolten 1968, dass die Gemeinschaft auch für "kritisches Suchen nach der Möglichkeit und Berechtigung christlicher Existenz" stehe. Heute bewirbt das Programm etwa den veganen Kochkurs "Soul Food" oder "Bibel beim Bier", einen "unfrommen Thementalk über Gott und die Welt".
"Die ESG ist heute nicht mehr so politisch, wie sie es früher einmal war", sagt Irene Albrecht. Aufgrund der Bologna-Reform und der damit verbunden Verschulung des Studiums hätten junge Menschen nicht mehr die Kraft und Zeit, um die großen politischen Fragen unserer Welt zu kämpfen. "Es geht nicht mehr um große Veränderungen, sondern um politische Arbeit im Kleinen", ergänzt Hochschulpfarrer Matthäus Wassermann. Studierende seien seiner Meinung nach nicht weniger engagiert als früher, die Schwerpunkte hätten sich einfach gewandelt.
Seelsorge am Puls der Zeit
Studierende heute könnten auf den Errungenschaften ihrer Vorgänger aufbauen, findet Irene Albrecht. Die ESG sei stets Vorreiter bei sozialen Fragen gewesen. Stolz erinnert sie etwa an den ESG-Pfarrer Richard Weißkopf, der 1988 zwei sich liebenden Frauen den kirchlichen Segen gab, was bundesweit für Aufregung sorgte. Heute gibt es in der ESG einen eigenen lesbischen Arbeitskreis und auch Gottesdienste mit Schwerpunkt Homosexualität werden angeboten.
Diese Seelsorge am Puls der Zeit ist eine Stärke der ESG, die jedoch auch der Not heraus geboren ist. "Die ESG bekommt die wachsende Säkularisierung stark zu spüren", sagt Hochschulpfarrer Ralph Baudisch. Zum einen würden zunehmend Themen nachgefragt, die nicht direkt kirchlichen Schwerpunkten entsprächen. Zum anderen würden die Zielgruppen sich immer weniger mit christlichen Traditionen auskennen. Die ESG würde dem jedoch erfolgreich mit einem Konzept der Offenheit begegnen. "Jeder ist hier willkommen!"
Ihr 70-jähriges Bestehen feiert die ESG ab Freitag, 11. Januar mit mehrtägigen Festlichkeiten. So heißt es am Freitag "Let's have a Party!" im Stil der 1950er Jahre mit Musik und Tanz, Swing und Rock'n Roll. Am Samstag zeigt die ESG den Dokumentarfilm "Mit Jesus auf die Barrikaden", der die Rolle der ESG in der 68er Bewegung beleuchtet. Am Sonntag lädt die ESG zum Kaffeekränzchen mit Grußworten und Glückwünschen, Kaffee und Kuchen und zu einem festlichen ESGottesdienst mit Musik von "New Future" und Predigt der Bundes-Studierendenpfarrerin unter dem Motto: "Gott sei Dank für 70 Jahre ESG!"