Ein Balletttänzer muss nicht zwingend auf einer Theaterbühne auftreten. Aber in einem Müllheizkraftwerk? Höchst ungewöhnlich. Wobei: Dass man sich in einem Müllheizkraftwerk befand, vergaßen die 300 Zuschauer, die am Samstag zur Veranstaltung „Würzburg tanzt ... Mit Energie“ gekommen waren, rasch. Denn die Anlieferungshalle des Kraftwerks war tipptopp hergerichtet und hatte sogar einen frischen Anstrich bekommen.
Reiner Tanz, tänzerische Akrobatik, Bewegungskunst im Grenzbereich zwischen Tanz und Theater, Trommelkunst – die energiegeladene Festivalproduktion war ein Geschenk an ein Publikum, das sich neugierig auch auf Ungewöhnliches einließ. Ein besonderer Höhepunkt war der zweimalige Auftritt des taiwanischen Tänzers Shang Chi Sun.
Soundgewitter
Zu Technobeats, die für an Computersounds nicht gewohnte Ohren aggressiv, teilweise nach Maschinengewehrsalven klingen, stellte Sun in „Traverse“ den Menschen in der abstrakten Zeit dar. Dass sich jemand inmitten dieses Soundgewitters immer wieder und ganz und gar auf einen Punkt konzentrieren kann, ist überaus faszinierend.
Im ersten Teil des Abends ging es bunt und munter zu. Zunächst sorgte Todoroki Wadaiko für einen hochdynamischen Trommelauftakt. Danach zeigte Würzburgs Tanznachwuchs sein Können.
Das tat er durch die Bank mit beeindruckender Perfektion. Jugendliche aus zwei Tanzensembles des Matthias-Grünewald-Gymnasiums realisierten mit Mitgliedern des Nana Ensembles Christiana Wagner-Schneiders fünfteilige Choreographie „Fun-Tastic“. Einige der 29 Tänzerinnen standen zum allerersten Mal auf einer Bühne.
Atemberaubend war die Breakdance-Show von „Dance Encore“. Der Atem stockte, als Moritz Haase sich am doppelten Trapeztuch hochhangelte, sich fallen ließ und in die Grätsche ging.
Eine traditionelle Balletttruppe erzählt mit den Mitteln der Körpersprache meist traditionelle Geschichten – man denke an Schwanensee. Zeitgenössische Tänzerinnen und Tänzer erzählen Geschichte, die uns heute und hier betreffen. Um Beziehungen etwa geht es Elisabetta Lauro und Cesar Augusto Cuenca Torres von der Compagnie Cuenca Lauro.
Das Duo erzählt von Verschmelzung, Verlust und Wiederbegegnung, von Momenten, in denen man sich treiben lässt und von Momenten der Wahl. Die Frage nach der Authentizität einer Tänzerin wirft die gebürtige Würzburgerin Janina Bobrowski in ihrem Stück „Wenn Gespenster zu singen anfangen“ auf. Ist eine Tänzerin immer noch eine Tänzerin, wenn sie nur dasteht?
Das Bild von der Tänzerin als unablässig Bewegte wird hier zur Disposition gestellt. Minutenlang herrscht unbewegte Stille zum Auftakt von Bobrowskis Gespenster-Stück. Nur das Kraftwerk macht dezente Geräusche. In die Urgewässer katapultierte Katja Wachter das Publikum mit ihrem satirischen Stück „Das neueste Modell“, das im Müllheizkraftwerk begeisterte Uraufführung feierte.
Es geht um Schöpfung und Er-Schöpfung und um Evolution. Dahin also hat es der Mensch gebracht, als er den Urschleim hinter sich ließ, nachdem er den Affen abgestreift hatte – aus dem Urwald geriet er mitten hinein in die Ungeheuerlichkeiten einer digitalisierten Welt, die ihn vollends zu Tode zu hetzen droht.
Bankrotterklärung?
Krone der Schöpfung oder schöpferische Bankrotterklärung? Mancher Zuschauer fragte sich, wie das alles noch weiter geht. Und ob überhaupt. Oder ob es am Ende wieder zurückgeht ins Urgewässer.
Lernten die Menschen im 18. Jahrhundert die Quadrille zu tanzen, powern sie sich heute mit Zumba aus. Aus dem klassischen Ballett a la Marius Petipa entwickelten sich zeitgenössische Tanzformen, die mit Disco-Mechanik und Sprechtexten einhergehen.
Dass der „Runde Tisch Tanz“ Einblick gab in das, was Tanz heute bedeutet, dafür gebührt ihm ein dickes Lob. Aber auch das Team um Müllheizkraftwerkschef Alexander Kutscher hat Tolles geleistet, um den Tanzabend möglich zu machen. Ins rechte Licht gerückt wurden die Auftritte von Bühnenmeister Julian Eichler, für den die Vielfalt des Dargebotenen eine immense licht- und tontechnische Herausforderung bedeutete.