Aus dem kleinen Zwischenraum zwischen den Handtüchern, die in der himmelblauen Tiertransportbox aus Plastik liegen, dringt ein helles Quietschen. Langsam hebt sich der Stoff und eine kleine Beule bewegt sich auf die Ecke der Transportbox zu. Dort kommt zuerst ein winziges schwarzes Schnäuzchen zum Vorschein, gefolgt von zwei ebenso winzigen Kulleraugen. Unbeholfen robbt sich der zwei Wochen alte Babyigel unter dem Handtuch hervor und quietscht nach seiner Mutter. Die heißt Gudrun Martin.
„Na komm her, du verfressener Kleiner“, flüstert die 61-Jährige, während sie den winzigen Igel aus seinem vorübergehenden Heim in der Transportbox hebt. Sie nimmt das Jungtier in die Hand und gibt ihm aus einer stumpfen Plastikspritze eine milchige Substanz zu fressen. Stechen kann sich die Ziehmutter an den weichen Stacheln des Igels noch nicht.
„Na komm her, du verfressener Kleiner.“
Gudrun Martin zu einem ihrer kleinen Zöglinge
Gudrun und Herbert Martin betreiben die Gerbrunner Igelstation und retten dort Babyigel, deren Mütter verstorben oder vertrieben wurden, sowie verletzte ausgewachsene Igel. Vor 24 Jahren hatte sie die Igelstation gemeinsam mit ihrem Mann gegründet, seit dem verließen tausende verwaiste oder verletzte Insektenfresser die Familie Martin in Richtung Wildnis. „Wir haben für jeden Entwicklungsstand des Tieres das passende Gehege“, sagt die 61-Jährige. Für Jungtiere ist die mit Handtüchern ausgekleidete Transportbox die erste Auffangstation. Sind die Igel dann gewachsen, kommen sie in eines der vielen Außengehege. Über 300 Tiere wildert sie mit ihrem Mann pro Jahr aus, die Hochsaison beginnt Ende August, wenn die Igel ihre Jungen bekommen.
„Die vier Tiere, die ich jetzt habe, sind erst der Anfang“, ist sich Gudrun Martin sicher, „bald werden es wieder bis zu zehn Tiere am Tag sein, die mir gebracht werden“. Während sie erklärt, setzt sie das satte Igelbaby vorsichtig zurück in die Transportbox, steckt es wieder unter das Handtuch und schnappt sich das nächste ebenso gierig quietschende Tier.
Die vier winzigen Igel kamen vor wenigen Tagen an. Sie sind zwei Wochen alt. Ihre Mutter wurde von einer Frau, die den Igel in ihrem Garten entdeckt hat, in einen Wald gebracht. Danach hat die Frau bemerkt, dass sich vier Jungtiere in ihrem Garten befinden.
„Leider denken viele Menschen, dass Igel keine Nester in ihrem Garten bauen und bringen sie deshalb weg“, sagt Gudrun Martin. Dabei trennen sie die Igelmutter von ihren Jungen, die ohne Nahrung und ohne den Schutz des Weibchens sterben. Deshalb rät sie allen, die ein Igelnest im Garten finden: „Lassen Sie das Nest wie es ist und beobachten Sie, ob Sie ein Muttertier entdecken.“ Kommt die Igel-Mutter nach mehreren Stunden nicht zurück, sollte man bei der Igelstation anrufen.
Lebensraum wird kleiner
„Verletzte, erkrankte und sehr junge Igel sind in einer Igelauffangstation sicher gut aufgehoben“, erklärt Wolfgang Laufs vom Bund Naturschutz Bayern. Igel sind keine gefährdete Tierart, die Population ist nach wie vor sehr groß. Allerdings schwindet der Lebensraum der Insektenfresser zunehmend. „Ihr Lebensraum wird durch Straßenbau und Neubaugebiete immer weiter eingeschränkt. Ein dichteres Straßennetz führt auch zu einer erhöhten Anzahl der Igel, die überfahren werden“, sagt Wolfgang Laufs. Allerdings sind Igelauffangstationen nur sinnvoll, wenn sie fachkundig geleitet werden.
Es gibt keinen Zweifel daran, dass die Igelstation Gerbrunn diesem Kriterium entspricht. Kommen die Tiere in der Station an, werden sie zuerst gewogen, danach mit Tee mit Honig „erstversorgt“ und anschließend entleert. „Die Jungtiere können noch nicht selbstständig aufs Klo gehen“, erklärt die Tier-Pflegerin, „Deshalb reibe ich so lange am Unterbauch, bis sie sich entleeren können“. Danach bekommen die Tiere erst einmal Ruhe.
Gefüttert werden sie nur mit spezieller Igelnahrung, von der ein Kilo schlappe 50 Euro kostet. „Das ist aber nötig. Gibt man den Tieren zum Beispiel Milch, blähen sich die Bäuche auf und sie sterben qualvoll daran“, sagt Gudrun Martin. Alle zwei bis drei Stunden müssen die Igel gefüttert werden – auch Nachts. „Jetzt werde ich tatsächlich ziemlich wenig schlafen“, blickt sie voraus, „aber ich kann doch meine Igel nicht einfach eingehen lassen.“
Warum sie diese Strapazen auf sich nimmt, kann sie selbst nicht genau erklären. Vor 24 Jahren fuhr sie mit dem Auto einen Igel an und wusste nicht, was sie tun soll. Im Tierheim hat man ihr dann ein paar grobe Tipps gegeben, seit dem kümmert sie sich um die Insektenfresser.
Heute, mit fast einem viertel Jahrhundert Erfahrung im Umgang mit Igeln, holt sich eben dieses Tierheim Tipps bei Gudrun Martin. „Natürlich würde der Igel ohne mich nicht aussterben“, gibt sie zu, „Aber ich finde jedes Lebewesen hat ein Recht zu leben. Egal, ob es Menschen, Katzen oder Regenwürmer sind. Und ich bin eben Spezialist für das Retten von Igeln“.
Spenden für Igel
Die Igelstation von Gudrun Martin finanziert sich aus eigenen Mitteln der Mitarbeiter und aus Spenden des Tierheims Würzburg. Wer der Igelstation Gerbrunn oder der Zweigstelle in Retzbach helfen will, kann sich unter Tel. (0931) 30 48 96 08 melden oder auf folgendes Konto spenden: Kontonummer: 536 23 26; VR-Bank Würzburg, BLZ: 79 09 00 00; „Igelhilfe“