Bayerns Kultusministerium will zum Schuljahresbeginn den seit 1999 geltenden Legasthenie-Erlass kippen. Der Erlass soll durch eine „Kann“-Bestimmung ersetzt werden. Dies geht aus Änderungsvorlagen der Bayerischen Schulordnung hervor, die dieser Redaktion vorliegen.
Während das Kultusministerium nach eigenen Angaben die Zahl der Legastheniker unter Bayerns Schülern grundsätzlich nicht erfasst, geht der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) von vier Prozent Schülern mit Legasthenie und zusätzlich acht Prozent Schülern mit Lese-Rechtschreibschwäche aus. Bei über 1,2 Millionen Schülern in Bayern hätten nach Einschätzung des BLLV demnach rund 144 000 bayerische Schüler Probleme mit dem Rechtschreibverständnis.
Laut der Würzburger Vorsitzenden des Bundesverbands für Legasthenie- und Dyskalkulie, Christine Sczygiel, hat der bisherige Legasthenie-Erlass gewährleistet, dass Kinder mit diagnostizierter Legasthenie das Recht auf Nachteilsausgleich hatten, also etwa in Prüfungen mehr Zeit beanspruchen durften oder Hilfsmittel wie einen Laptop nutzen konnten.
„Rückschritte“ befürchtet
Vor allem aber galt bisher der sogenannte Notenschutz. Er stellte sicher, dass die Rechtschreibleistung von Legasthenikern aus der Fachnote herausgerechnet werden musste – und zwar nicht nur in Deutsch, sondern auch in anderen Fächern wie Englisch oder Geschichte, in denen es um die Erfassung und Produktion von Texten ging.
Nach den Plänen des Kultusministeriums werde der Notenschutz künftig nicht mehr grundsätzlich bei diagnostizierten Legasthenikern gelten, sondern nur noch als „Kann“-Bestimmung angewandt, so Sczgiel, deren Verband eine Stellungnahme zur Änderung des Legasthenie-Erlasses abgegeben hat. „Das bedeutet, dass künftig nicht eine Diagnose entscheidet, ob ein Kind Notenschutz bekommt, sondern der Schulleiter.“ Sczygiel befürchtet dadurch „Rückschritte im Umgang mit Legasthenikern“.
Weiter halte sie es für problematisch, so Sczygiel, dass nach Plänen des Ministeriums künftig auch Schulpsychologen Legasthenie diagnostizieren sollten und nicht nur, wie bisher, Kinder- und Jugendpsychiater. „Die Vorlage einer schulpsychologischen Stellungnahme ist erforderlich“, schreibt dazu das Kultusministerium. Dies sei aber bisher auch schon der Fall gewesen.
Sollten Bayerns Schulpsychologen durch die Änderung des Erlasses mehr Arbeit bekommen, hielte BLLV-Präsidentin Fleischmann dies für falsch. Die Arbeitsbelastung von Bayerns Schulpsychologen sei schon jetzt extrem hoch. Fleischmann wundert sich, dass das Kultusministerium immerzu an „Stellschrauben drehen“ müsse, auch wenn etwas gerade funktioniere.
Durch den neuen „Kann“-Erlass sieht Fleischmann „noch mehr Arbeit als bisher“ auf Bayerns Schulleiter zukommen, die ohnehin schon mit Pflichten überfrachtet seien. „Notenschutz missbraucht“ Gleichzeitig betont Fleischmann, dass sie keine hundertprozentige Anhängerin des bisherigen Legasthenie-Erlasses sei. Der Erlass sei von Eltern manchmal missbraucht worden, sagt sie. Sie erinnere sich an Eltern, die, um dem Kind den Weg auf eine weiterführende Schule zu ebnen, auf Biegen und Brechen eine passende Diagnose beigebracht hätten. Grundsätzlich aber ist Fleischmann für klare Vorschriften.
„Kann“- Erlasse belasten
Gebe es keine klaren Vorgaben, müssten Schulleiter und Lehrer Eltern gegenüber sich dauernd rechtfertigen, warum ein Kind Notenschutz bekomme und ein anderes nicht. Das Kultusministerium hält die Kritik der beiden Verbände an der Änderung des Erlasses für unberechtigt. Es sei „keineswegs geplant, dem Schulleiter ein Ermessen darüber einzuräumen, ob Notenschutz gewährt werde“, so ein Sprecher. Gleichzeitig aber bestätigt das Kultusministerium dieser Redaktion in einem Schreiben ausdrücklich, dass künftig „kein Notenschutz von Amts wegen gewährt“ werden soll.
„In diesem Sinne „kann“ er gewährt werden“, heißt es. Eine der Voraussetzungen für Notenschutz sei „ein Antrag des Schülers beziehungsweise des Erziehungsberechtigten“. Laut Ministerium ist ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom Juli 2015 ursächlich für die Änderung. Das Gericht habe geurteilt, dass das Gebot der Chancengleichheit Anspruch auf Nachteilsausgleich, nicht jedoch auf Notenschutz gewähre.