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NEUBRUNN: Damit der Alptraum aufhört

NEUBRUNN

Damit der Alptraum aufhört

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    Künstler, Tüftler und Techniker: Norbert Schilling (links) und Sven Führ fertigen Gesichtsprothesen.
    Künstler, Tüftler und Techniker: Norbert Schilling (links) und Sven Führ fertigen Gesichtsprothesen. Foto: FOTO Thomas Obermeier

    Norbert Schilling ist Künstler, Tüftler und Techniker. Ein bisschen ist er auch wie ein Engel, der seine schützenden Flügel über all jene ausbreitet, die seine Hilfe dringend benötigen. Krebspatienten etwa oder Unfallopfer. Für Schilling ist die Epithetik mehr als ein Beruf. „Das ist eine Neigung. Alles was ich auf diesem Gebiet kann, habe ich mir selbst erarbeitet.“ Und Schilling kann viel.

    Patienten aus ganz Europa kommen zu ihm, vertrauen seiner langjährigen Erfahrung, legen ihr Gesicht in seine Hände. Rund 150 Patienten sind es im Laufe eines Jahres. Tendenz steigend. Weil, so sagt Schilling, die geburtenstarken Jahrgänge jetzt in das Alter kommen, in dem Menschen häufig an Krebs erkranken.

    Es gibt nicht viele Fachleute, die sich dem Gebiet der Epithetik verschrieben haben. Es gibt nicht einmal eine anerkannte Ausbildung in Deutschland – bei nur 600 bis 700 Patienten jährlich wird die Epithetik der Zahntechnik, der Orthopädie oder der plastischen Chirurgie zugeordnet.

    „Ich habe erst als Zahntechniker gearbeitet, dann in einer Klinik für plastische Chirurgie“, sagt Schilling. An seine Anfangszeit kann er sich gut erinnern. Weil sich in der Klinik niemand mit dem Gebiet befasste und es mangels Spezialisten bis heute keine einschlägige Literatur oder gar Rezepte zum Mischen von Farbtönen gibt, gilt Schilling als Pionier.

    In der Klinik damals wusste man seinen Einsatz zu schätzen – und bald hatte Schilling seinen ersten Auftrag. „Eine Nase“, erinnert sich Schilling. „Ich war jung, dynamisch und zu allem bereit – ich habe getüftelt, alle möglichen Materialien und Farben ausprobiert.“ Schilling wurde in Bastelgeschäften, Schmink- oder Modellbau-Ecken fündig.

    Heute sind die Vorgaben strenger. „Seit vier Jahren darf in Deutschland nur medizinisch geprüftes Material verwendet werden“, sagt Schilling. Das sichere den Epithetiker zwar rechtlich ab, wenn es zu einer der selten auftretenden Hautallergien kommt, schränkt Schilling aber beim Tüfteln und Optimieren enorm ein. Weiteres Handicap: die einzige deutsche Firma stellt das benötigte Material nicht mehr her: der Umsatz ist zu gering. Epithesen werden meist aus stabilem Acrylat gefertigt, auch Silicon gehört zu den Materialien.

    Höchst unterschiedlich sind die Preise, die von Patienten für den künstlichen Ersatz gefordert werden. „Ein Ohr kostet bei dem einen 2800 Euro, ein anderer verlangt für die gleiche Leistung 16 000 Euro“, sagt Schilling. Erst allmählich zeichneten sich einheitliche Regelungen ab. „Die Sachbearbeiter von Krankenkassen und Medizinischem Dienst haben bei solchen selten vorkommenden Fällen natürlich erstmal keine Vergleichsmöglichkeiten“, sagt Schilling.

    Für Patienten, die nach Neubrunn kommen, organisiert er den mehrtätigen Aufenthalt. „Die haben genug mit allem zu kämpfen“, sagt er. Und dass viele schon an den Fahrtkosten zu knabbern haben.

    Damit den Sachbearbeitern schnell klar wird, dass die geforderte Leistung kein Luxus ist, legen Schilling und seine Teamkollegen immer ein kleines Bild von dem Gesicht des Patienten bei – ohne Epithese.

    Geschockt oder angeekelt sei er nie gewesen, sagt Schilling. Dass der Anblick eines schlimm entstellten Patienten aber auch für einen Epithetiker belastend sein kann, bestreitet der gebürtige Stuttgarter nicht. „Ich knirsche mit den Zähnen, was ja immer ein Zeichen von Verarbeitung ist – aber das tun die meisten Menschen in medizinisch-sozialen Berufen.“

    Schilling, der mittlerweile sechs Mitarbeiter beschäftigt, sieht in seinem Beruf mehr als ein florierendes Unternehmen. „Mit den Patienten geht man eine Ehe ein. Man kommt sich sehr nahe“, sagt Schilling. Weil sich ständig etwas verändert, Narben kleiner werden oder weil Sekrete das Material unbrauchbar machen, müssen in regelmäßigen Abständen Anpassungen vorgenommen werden.

    Modellieren und reden

    Meistens beginnt die Arbeit von Norbert Schilling und seinem Team schon in der Klinik. Zusammen mit den Ärzten und dem Patienten wird beraten, wie der künstliche Ersatz aussehen könnte, welches Material und welche Befestigungsmöglichkeiten in Frage kommen. Nach der Modellierung wird die Epithese dann verschraubt, magnetisch befestigt oder mit einer Brille stabilisiert.

    Die Phase des Modellierens betrachtet Schilling als wichtigstes Element. Der Epithetiker sitzt mit dem Patienten oft stundenlang zusammen. „Wir reden und babbeln – und der Patient entspannt sich.“ Auch wenn mittlerweile ein computergesteuertes Gesichts-Screening und eine Bestellung über Computer technisch kein Problem mehr darstellen, so hält Schilling nichts von dieser Methode.

    „Die Prothese sollte langsam wachsen, dem Menschen wirklich angepasst werden. Das setzt Fingerspitzengefühl und Erfahrung voraus. Man kann bestimmte Dinge nicht automatisieren.“

    Seine Handarbeit jedenfalls wird europaweit hoch geschätzt. „Manche Patienten weinen vor Freude“, sagt Schilling. Dann weiß er, dass der Alptraum für sie vorbei ist.

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