Ich freue mich am meisten aufs Kettenkarussell. Und eine Bratwurst“, sagt Amelie Ullmann und strahlt. Mit ihrer Kindertracht aus dem Ochsenfurter Gau, dem Blumenkranz im Haar, dem grünen Tuch und einem bunten Blumenstrauß in der Hand sieht die Jüngste der Eichelseer Trachtengruppe aus wie eine Prinzessin.
Amelie ist perfekt vorbereitet für ihren ersten Trachten- und Schützenumzug zum Oktoberfest. 9200 Teilnehmer werden später vom Max II.-Monument sieben Kilometer durch die Münchner Innenstadt zur Theresienwiese ziehen. Darunter erstmals eine Formation aus dem Oberen Werntal mit 200 Trachtlern und Musikern. Oder zum Beispiel Gruppen aus Litauen, Serbien oder Bosnien-Herzegowina. Vor einem Millionenpublikum am Straßenrand und vor den TV-Bildschirmen.
Eine Kutsche als Option
Nur noch ein paar Tage ist Amelie fünf, aber bereits Schülerin. „Meine Mama Katja, Oma Evi und Opa Otmar gehen heute auch mit“, freut sich die Kleine. „Vor oder hinter uns fährt bestimmt eine Kutsche: Vielleicht darf ich dort ja mitfahren, falls ich müde werden sollte.
“ Um Amelie herum herrscht hektische Betriebsamkeit im Pfarrsaal von Sankt Andreas, einen halben Kilometer von der Wiesn entfernt: Auf den Tischen liegen Haarteile und Netze, Gummis und Spangen, Bürsten, Kämme, Haarspray. Nebenan sind Kaffee und Kuchen aufgebaut, überall sind Utensilien fürs „Vorspiel“, wie die Trachtler das Ankleiden nennen.
Luise Stiegler ist die Expertin für die gezöpften Haare. Sie teilt zwei lange Zöpfe in 37 oder 41 Teile, flechtet sie zu breiten, flachen Zöpfen. Diese legt sie dann in Schlaufen hoch, steckt sie mit Haarnadeln fest. „Am meisten wundere ich mich, wer sich vor über hundert Jahren so ein Flechtwerk ausgedacht hat“, sagt sie, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. „Unglaublich“ findet sie, wie sich die Trachtengruppe aus dem Landkreis Würzburg seit dem ersten Auftritt vor 25 Jahren (1992 in Vellberg) entwickelt hat. „Damals waren wir zu fünft. Heute sind wir 54.“ Nur bei Irmi Knorr wird der filigrane Kopfschmuck aus ihrem Naturhaar geflochten, bei allen anderen Zöpfe und Echthaar so verbunden, dass man es kaum sieht.
Eine Rüge für den Gaubauern
Und wehe, es sitzt etwas nicht perfekt: Dann kommt Roswitha Düchs ins Spiel, die Chefin der Trachtengruppe. „Wenn es nötig ist, wird ein Haarkranz eben noch mal aufgemacht“, sagt die sonst so freundliche Frau unerbittlich. „Wer hier zur Tür rausgeht, wurde öfters kontrolliert als beim Eingang zum Oktoberfest“, scherzt einer der Männer. „Und das vom strengsten TÜV der Welt.“ Wie sich das anfühlt, weiß ich eine halbe Stunde später: Heute bin ich mit von der Partie, habe mich als Gau-Bauer bereits angefreundet mit meiner Tracht. Alles sitzt: der Dreispitz, das weiße Hemd, die rote Weste mit Goldknöpfen, die schwarze Jacke, das Halstuch, die ockerfarbene Hose. Und selbst die beiden silbernen Schnallen auf den Straßenschuhen sind nach einigem Gefummel jetzt genau an der Stelle, wo sie sein sollen.
Eine gut ausgetüftelte Ordnung
„So gehst du nicht raus“, ruft Roswitha durch den Raum, denn meine weißen Trachtenstrümpfe hängen auf halbmast. Alle lachen, jetzt haben sie den Gast, der später mit Amelies Mama Katja als Paar zu den Hochzeitsgästen gehört, tatsächlich beim Schlampen erwischt. Ich bekomme zwei weiße Strumpfgummis und weiß jetzt, wozu jene beiden gut waren, die ich vorher achtlos im Kleidersack zurückgelassen hatte.
Schließlich ist das, was für einen unbedarften Zuschauer zunächst nach Chaos aussieht, in Wirklichkeit eine gut ausgetüftelte Ordnung: Jeder Männertracht ist, vom Hut abgesehen, komplett in einem Kleidersack verstaut, nummeriert und mit Namen versehen. Wer wie ich das erste Mal mitfährt, wird Wochen vorher zur Anprobe gebeten.
Eine zu weite Tracht
„Klein und dick“, habe ich am Telefon den künftigen „Gau-Bauern“ beschrieben. Und war erleichtert, dass die daraufhin für mich vorgesehene Tracht eindeutig zu weit war, viel zu weit. „Du kriegst eine andere,“ entschied Roswitha Düchs, die bei Bedarf Hosen oder Hemden enger oder weiter näht, die jedes Teil in Schuss hält. Nicht alle Männertrachten sind Originale aus der Zeit um 1850.
„Damals haben die reichen Bauern sie bei hohen kirchlichen Feiertagen und zu Hochzeiten getragen.“ Ab 1900 wurden dann Zylinder und Gehrock bevorzugt, die Mode aus der Stadt.
Inzwischen ist es kurz vor neun Uhr an diesem Sonntag, noch eine gute Stunde bis zur Busfahrt an den Startpunkt. Anfangs kamen mir die eingeplanten viereinhalb Stunden irrsinnig lange vor. Jetzt sehe ich, was noch zu tun ist, bis die Hochzeitsgesellschaft perfekt ist. Die Braut gibt heute Katharina Walch aus Gaukönigshofen. „Ich war schon öfters dabei, das erste Mal dank Oma Regina mit sieben oder acht. Für mich gehört jetzt einfach dazu“, sagt die 23-jährige Kinderpflegerin.
Der perfekte Bräutigam
„Sie war schon länger dran. Aber der Bräutigam muss dazu passen“, liefert Roswitha Düchs wieder ein Beispiel für ihren Hang zur Perfektion. Fabian Hauprich passt, der heutige Bräutigam aus Erlach. An einer Tracht kann der 20-Jährige nichts „Verstaubtes“ sehen, im Gegenteil. Als Fachkraft bei einem Herrenausstatter in Würzburg kennt er sich mit feiner Kleidung bestens aus.
Die letzte halbe Stunde vor der Abfahrt ist angebrochen. Bis jetzt hat Rowitha Düchs in knielanger Unterhose, weißen Strümpfen und im Leinenhemd alles organisiert. Im Nu hat sie den Tracht-Unterbau mit einem steifen Wattrock und zwei weiteren Unterröcken an, Luise Stichler richtet die Haare, und bald steht die Chefin in voller Pracht zur Abfahrt bereit. „Da staunst du?“, ruft sie mir zu, man kann Stolz und Freude in ihrem Gesicht ablesen. Der Satz, dass die Tracht aus einem einfachen Menschen etwas Besonderes macht, geht mir durch den Kopf.
Ein Triumphzug durch die Straßen
Der Zug durch die Straßen gerät zu einem einzigen Triumph. „Bravo“, „Ihr seht ja toll aus“, Woher kommt ihr denn“ ruft das Publikum. Vor allem die Frauen werden ausgiebig bewundert. Zu den Besuchern an der Strecke gehören auch Ministerpräsident Horst Seehofer und der Münchner Kardinal Marx.
Amelie ist bei ihrem ersten Oktoberfestauftakt übrigens nicht in die Kutsche gestiegen. Die Fünfjährige strahlt, jetzt gibt es bald Bratwurst und Kettenkarussell. Aber erst steht und allen noch das „Nachspiel“ bevor, Umziehen und Aufräumen. Schließlich sind die Trachten viel zu wertvoll fürs Bierzelt: Immerhin geht es jetzt schneller!
Wissenswertes zur Tracht Die Festtagstracht war im Leben der Bauersfrau eine einmalige, kostbare Anschaffung. Um 1905 und in den Folgejahren war sie besonders beliebt, dann wurde es weniger. In Eichelsee fand die letzte Trachtenhochzeit 1935 oder '36 statt. Stolz jeder Trachtenträgerin war (ist) die Goldatlasschürze und der Seidensamte Mutzen mit acht Silberfiligranknöpfen und Glitzerbändern. Unter der goldgeblumten Schürze kommt ein roter Bänderrock mit bis zu 600 Falten hervor, mit blauen Seidenbändern geziert. Das Schultertuch ist rot oder blau, dazu kommt ein seidenes Halstuch. Weiße Strümpfe, Samtschuhe, Perlhandschuhe (Stäuchele) sind Pflicht, dazu wertvoller Schmuck, bestehend aus Kreuzgehänge, Ohrringen, mehreren Fingerringen und einer Brosche. Verheiratete Frauen haben eine lange Haube, Unverheiratete gezöpfte Haare. Die Männertracht im Gau wurde ab 1900 von Zylinder und Gehrock verdrängt. NOH ONLINE-TIPP Eine Bilderserie vom Trachtenumzug finden Sie unter: www.mainpost.de