Ehrfürchtig blickt Doris Jäger-Herleth am Kiliansdom empor. „Jahrhunderte Würzburger Geschichte liegen zwischen diesen Steinen; der Dom ist geistlicher Mittelpunkt des Bistums, ein Zeugnis von Glaube und Hoffnung“, sagt sie. Genau deshalb interessiert die Domführerin sich für das Gotteshaus, dessen erster Vorgängerbau schon 788 eingeweiht wurde. Für den romanischen Kirchenbau wurde der Grundstein im Jahr 1040 gelegt. Im Lauf der Jahrhunderte änderte der Dom immer wieder sein Aussehen.
Dom war innen völlig ausgebrannt
Doris Jäger-Herleth erklärt: „An die Stelle der schlichten Holzdecke im Hauptschiff trat später ein Tonnengewölbe, und ab dem 18. Jahrhundert bekam der Dom eine prächtige barocke Innenausstattung. Dann kam der 16. März 1945. Danach war bekanntlich in Würzburg nichts mehr wie zuvor.“ Auch der Dom leidet unter dem Bombenangriff. Das Bauwerk selbst bleibt zwar weitgehend erhalten, doch das Innere brennt völlig aus. „Man hatte zuvor unter den Westtürmen einen sicheren Ort für den Domschatz geschaffen, doch als die Glocken im Feuersturm schmolzen, tropfte die glühende Bronze durch die Öffnungen für die Glockenseile nach unten und zerstörte ihn“, berichtet die Domführerin. Und das ist nicht die letzte Katastrophe, die das Gebäude erfasst.
Mindestens genauso tragisch ist das Geschehen rund ein Jahr danach: „In der Nacht auf den 20. Februar 1946 stürzte die gesamte Nordwand ein und riss auch das bisher erhaltene Gewölbe mit“, sagt Doris Jäger-Herleth. „Wenige Tage zuvor war das zerstörte Holzdach ersetzt worden; für die Würzburger ein Hoffnungszeichen zwischen den Ruinen ihrer Stadt. Und dann der erneute Rückschlag.“
Risse in der Bausubstanz
Dabei spielt genau diese Dachkonstruktion eine Rolle: Aus Mangel an Baumaterialien wird sie aus Stahl gefertigt und wiegt über 150 Tonnen. „Das war aber nicht die einzige Einsturzursache“, weiß die Kirchenkennerin. „Die Pfeiler auf der Nordseite waren zwar gemauert, innen aber mit Steinschutt gefüllt und damit nur bedingt belastbar. Außerdem ließ die Sprengung von großen Mengen Kriegsmunition nahe der Stadt die Erde erzittern. Durch eingedrungenen Regen waren zudem die Wände durchnässt und der Winter 1946 war extrem kalt, sodass der Frost zusätzliche Risse in der Bausubstanz verursachte. All das zusammen führte in der Februarnacht zur zweiten Katastrophe.“
Dabei hatte es Warnungen gegeben. Schon in den ersten Februartagen 1946 zeigen sich Risse in den Langhauspfeilern, auf denen der neue, schwere Dachstuhl ruht. Es werden Stützen angebracht, doch weitere Risse entstehen. Kunsthistoriker Rudolf Edwin Kuhn (1920-2001), der am Wiederaufbau beteiligt ist, warnt den hinzugezogenen Architekten Albert Boßlet (1880-1957). Der begutachtet den Schaden am 19. Februar morgens um neun Uhr und sieht keinen Anlass zur Sorge.
„Bei ihnen knirscht's im Hirn
In seiner Dissertation arbeitete Georg Stippler auf, wie Professor Boßlet reagierte: „Der Architekt zeichnete als Antwort ein Kräfteparallelogramm auf und erklärte Kuhn, warum der Dom nicht einstürzen könne. Weiterhin wies er Kuhn zurecht, sich um seinen 'Kunstkram' zu kümmern, da hätte er genug zu tun. Als Kuhn zu bedenken gab, es knirsche in den Pfeilern, wurde er mit dem Kommentar hinauskomplimentiert: 'Bei Ihnen knirscht?s im Hirn…‘“ Gegen 14 Uhr schaut der Kunsthistoriker erneut nach den Pfeilern und ordnet an, dass alle Menschen den Dom sofort zu verlassen haben. Zum Glück kommt niemand zu Schaden, als um 1.30 Uhr nachts die nördliche Seitenwand einstürzt.
„Die Anwohner glaubten an ein Erdbeben“, sagt Doris Jäger-Herleth. Dann beginnt die nächste schwierige Phase in der Geschichte des Kiliansdoms. „Erst durch die Katastrophe von 1946 drängte sich die Frage auf, in welchem Stil er wieder aufgebaut werden soll“, erklärt die Domführerin. „Nach dem 16. März 1945 war der damalige Bischof Matthias Ehrenfried noch überzeugt, dass der Dom nach dem Wiederaufbau erneut im barocken Glanz erstrahlen sollte. Doch jetzt war der Weg offen für neue Konzeptionen; selbst ein Zurück zum schlichten, romanischen Ursprung der Kirche war denkbar.“
Streit um den Wiederaufbau
Über zehn Jahre lang schwelt die Auseinandersetzung. Als das zuständige Domkapitel einen Entwurf vorlegt, der mit der Begründung einer liturgischen Reform auf die barocken Stuckaturen gänzlich verzichten will, regt sich Widerstand. Schnell gründet sich eine Gesellschaft aus Bürgern, Kunsthistorikern und Denkmalpflegern, die mit Flugblättern dazu aufruft, sich gegen die Eliminierung der Barockzeit zu wehren. Die Herausgeber des Flugblatts nennen die Pläne der Architekten „eine Barbarei zwölf Jahre nach der Zerstörung der Stadt Würzburg“.
Die Befürworter eines schlichten Wiederaufbaus dagegen sehen sich in der Pflicht, „den Raum in größerer Würde und ganz nach den Erfordernissen des Gottesdienstes wiederherzustellen.“ Selbst der „Spiegel“ berichtet 1957 über den Streit in Würzburg, der mittlerweile sogar die italienische Öffentlichkeit erreicht hatte.
Der Dom ist kein Museum
Was kam nun dabei heraus? „Ein Kompromiss“, sagt die Domführerin. Im erhaltenen Seitenschiff sowie im Chor zieren noch Stuckelemente die Gewölbe, während der neue Teil schlicht gehalten ist. Im Hauptschiff entsteht eine neuromanische Holzdecke. „Fertig ist der Dom auch heute nicht“, sagt Doris Jäger-Herleth. Genau das ziehe die Besucher an: „Sie sehen hier Zeugnisse vom 10. Jahrhundert bis in die Gegenwart.“
Die Würzburgerin findet den Kompromiss beim Wiederaufbau in Ordnung: „Der Dom hat sich durch seine lange Geschichte hindurch immer verändert. Er ist bis heute ein lebendiges Gebäude, kein Museum.“