Nachmittags um 4 am 7. April 1919, zwischen Dom und Neumünster: In Würzburg tobt die Revolution. Auf dem Dach eines Militärkraftwagens ruft der Kommunist Anton Waibel vor 3000 Leuten die Räterepublik aus. Im Domturm hört der Kirchendiener Matthias Seufert zu; ihm gefriert das Blut in den Adern. Waibel will aus den Kirchenhäusern Vergnügungslokale machen; „die Brutstätten der schwarzen Brüder“ seien „Verdummungsanstalten fürs Volk“.
Aber drei Viertel der Würzburger sind katholisch, hier haben Waibels Ideen keine Zukunft. Alois Fenzl, Redakteur des Würzburger Generalanzeigers, notiert, bei einem Teil der Zuhörerschaft erwecke der Revolutionär „ein tiefes Gefühl des Ekels und der Beschämung“. Zwei Tage später, am Abend des 9. April, legt sich der Kirchendiener Seufert beruhigt ins Bett. Kaum ausgerufen, ist die Würzburger Räterepublik schon wieder zu Ende, nach Geiselnahmen und tödlichen Kämpfen um Residenz, Kasernen, Festung und Hauptbahnhof.
94 Bocksbeutel und die Revolutionäre
In diesen Zeiten nach dem Ersten Weltkrieg geht es den Würzburgern nicht gut. Die Stadtverwaltung betreibt in Grombühl eine Volksküche. Vom August 1917 bis August 1920 gibt sie an die Armen 233 900 Portionen Mittagessen, 123 365 Eintopfgerichte und 45 630 Suppen aus. Im ganzen Land herrscht Not, es ist reif für die Revolution. Im November 1918 jagen die Münchner König Ludwig III. davon; Kurt Eisner, ein Sozialist von der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) regiert den neuen Freistaat als Ministerpräsident. In Würzburg herrscht seit November 1918 ein Arbeiter- und Soldatenrat, besser: Er versucht es. Unerfahren in den Angelegenheiten der Verwaltung, nehmen die meist jungen Soldaten kaum Einfluss auf die Rathaus-Geschäfte. Dafür beziehen sie am 13. November 1918 noble Stuben, den Südflügel der Residenz. Mit 94 Bocksbeuteln vom 1916er Würzburger Leisten, requiriert im Hofkeller feiern sie Einstand.
Am 19. Januar 1919, in der Wahl zur Bayerischen Nationalversammlung, erlebt Eisners USPD ein Debakel: ein halbes Prozent der Stimmen in Würzburg, 2,7 Prozent in Bayern. Gewinner sind die stramm katholische Bayerische Volkspartei (BVP) und die SPD.
Zwei Tage später erschießt Anton Graf von Arco auf Valley in München den Ministerpräsidenten. Am 17. März wählt der bayerische Landtag den Sozialdemokraten Johannes Hofmann zum Ministerpräsidenten.
In Würzburg verbünden sich die USPD (die „Unabhängigen“) und die KPD; sie gewinnen rasch Einfluss. Redakteur Fenzl notiert, das 9. Infanterieregiment aus der Zellerau sei „plötzlich kommunistisch geworden“. Er glaubt, „dass Spartakus sich ausbreitet, die kommunistische Idee Boden gewinnt, und dass Bürgerliche und Mehrheitssozialisten (die SPD, d. Red.) eine gemeinsame Abwehrfront gegen die neue Gefahr werden müssen. Aber bald, ehe es zu spät ist.“
Am 26. März gründen Unabhängige und Kommunisten den zwölfköpfigen „Revolutionären Aktionsausschuss“ (RAA). Ihr Ziel: das Errichten einer sozialistischen Räterepublik.
7. April 1919, ein Montag, 5.45 Uhr in der Frühe. Zwei Bewaffnete vom RAA machen den Würzburger Generalanzeiger dicht; kein Bürger kommt mehr raus oder rein. Erst zensiert der RAA die Tageszeitungen in der Stadt, dann verbietet er sie und ruft zum Streik auf. Überall in der Stadt sind Abgesandte der Räte unterwegs, locken und zwingen zur Arbeitsniederlegung. Aber auch ihre Gegner formieren sich. Am Abend trifft sich die SPD – von 1500 Leuten ist die Rede – zur Mitgliederversammlung. In einer Resolution erklären sie „aus politischen und wirtschaftlichen Gründen“ ihre Gegnerschaft zur Räterepublik.
8. April 1919: Ein Gerücht macht die Runde: Artilleristen aus der Faulenbergkaserne sollen einen Sturm auf die RAA-Zentrale in der Residenz und den von revolutionären Matrosen besetzten Hauptbahnhof planen. Infanteristen aus der Neunerkaserne in der Zellerau ziehen als Verteidiger der Revolution zur Residenz. Am Nachmittag bekennt sich Bürgermeister Andreas Grieser zur im Bamberger Exil tagenden Regierung Hoffmann. Die Lage spitzt sich zu.
Mittwoch, 9. April, 3.30 Uhr: Beim Rechtsrat Hans Löffler, Würzburgs späterem Oberbürgermeister, klopfen raue Fäuste an die Haustür. Löffler öffnet. Vor ihm stehen Gesandte des RAA, die sagen: „Wir sollen Ihnen verhaft.“ Löffler ist einer von 16 Honoratioren, die der RAA in dieser Nacht verhaftet und in der Residenz gefangen hält. Am Morgen lesen die Würzburger auf Plakaten: „Zur Vermeidung von Blutvergießen und zum Niederhalten gegenrevolutionärer Maßnahmen sahen wir uns genötigt bis auf weiteres 16 Geiseln festzunehmen. Wir warnen deshalb vor jedem unüberlegten Schritt gegen das Proletariat. Wenn Proletarierblut fließt, werden Geiseln erschossen.“
„Schließt sofort alle Betriebe“
Spätestens nach der Geiselnahme steht die Einheitsfront der Revolutionsgegner: BVP, SPD und Stadtverwaltung. Sie bringt ein Flugblatt unters Volk: „Beamte, Bürger, Arbeiter! Eine Reihe unserer Mitbürger, unter ihnen Führer der Mehrheitssozialisten, sind vom revolutionären Aktionsausschuss verhaftet. Darauf gibt es nur eine Antwort: Der Bürgerstreik. Bürger, Beamte, Arbeit! schließt sofort alle Betriebe und Geschäfte. Post und Eisenbahn stehen still!“
In der Residenz lassen sich die Geiseln Bocksbeutel und Zigarren schmecken. Draußen greifen die Parteien zu den Waffen. 300 Revolutionäre erwarten in der Residenz den Angriff, bewaffnet mit Maschinengewehren, Handfeuerwaffen und Handgranaten. Von der Faulenbergkaserne kommen in zwei Trupps zu je 70 Mann ihre Gegner marschiert: Artilleristen, kriegserfahrene Studenten und Schüler der Maschinenbauschule, Mitglieder des Akademischen Gesangsvereins und der Burschenschaft Arminia. Sie kommen mit Geschützen, Maschinengewehren und Revolvern.
Redakteur Fenzl notiert: „Schlag 12 der Mittagsstunde brachte dann die Befreiung Würzburgs von den Kommunisten.“ Ein Geschoss, abgefeuert an der Ecke Theater-/Balthasar-Neumann-Promenade, schlägt in das Tor neben der Hofkirche ein. Maschinengewehrfeuer aus der Residenz trifft den Maschinenbauschüler Robert Langer tödlich am Kopf. Dann stürmen die Angreifer über den menschenleeren Residenzplatz, dringen in den Palast ein und treffen auf ein heilloses Chaos. Die Räte geben auf. Mancher fürchtet um sein Leben, wie Ernst Ringelmann, Sohn eines früheren Würzburger Bürgermeisters.
Die Eindringlinge verpassen ihm eine furchtbare Tracht Prügel. Der Revolutionär Otto Knieriemen klagt über „Schmähungen, Beleidigungen und tätliche Angriffsversuche des Würzburger Pöbels“. Nach eineinhalb Stunden ist alles vorbei.
Am Hauptbahnhof stehen eine Schutzwache des Revolutionären Aktionsausschusses und rund 100 Matrosen. Ein Maschinengewehr steht auf dem Dach hinter der (damaligen) Uhr, eins vor der Schalterhalle. Um 13.30 Uhr wissen sie noch nicht, dass die Kasernen und die Residenz verloren sind – bis der Angriff kommt: 200 Mann in drei Trupps, von links, rechts und von vorne durch die Kaiserstraße. Hier spaziert der Privatier Ignaz Oefelein, der frühere Wirt der Gaststätte „Zum Hirschen“. Ein Schuss vom Hauptbahnhof zerfetzt ihm den Bauch. Am Abend stirbt er. Fast zwei Stunden lang dauert der Kampf. Zur gleichen Zeit fällt auch die Festung wieder in die Hände der Bürgerlichen. Zwei Dutzend Männer werden getötet, die meisten sind Revolutionäre. Unter ihnen ist zum Beispiel der Obermatrose Ludwig Ackermann, der die Angreifer vom Bahnhofsdach aus mit dem Maschinengewehr beschießt. Ein Geschoss reißt ihm den Unterkiefer weg.
An ihrem dritten Tag ist die Würzburger Räterepublik am Ende. Die Sieger stellen ein Freiwilligenkontingent zusammen, das unterfränkischen Spartakisten in Aschaffenburg, Schweinfurt und Lohr zwölf Stunden Zeit gibt zu kapitulieren. Die Städte unterwerfen sich.
„Würzburg hat sich selbst befreit“
Bürgermeister Grieser fasst zwei Tage später in einer öffentlichen Sitzung des Magristrats zusammen: „Seit Mittwochnachmittag ist Würzburg wieder eine freie Stadt. Vorher standen wir mehrere Tage unter einer Gewalt- und Schreckensherrschaft. Der revolutionäre Aktionsausschuss in der Residenz vereinigte in sich eine wahre Auslese fanatischer Kommunisten, verblendeter Schwarmgeister und unfähiger Schwätzer. Seine Stützen waren die Handgranaten und Maschinengewehre in den Händen verführter, verhetzter oder bestochener Soldaten. Das unsichtbare Ziel der Gewaltherrschaft war die Vernichtung der neuen Staatsform, die Zertrümmerung der Volkswirtschaft und der Umsturz des gesamten Gliederbaues. Würzburg hat sich selbst befreit, Würzburg wird Franken, Franken wird Bayern befreien. Das Unternehmen vom 9. April war ein einmütiges Bekenntnis zur reinen Demokratie.“
Das Würzburger Volksgericht verurteilt die Rädelsführer zu langjähriger Festungshaft. Der Kopf der Revolutionäre, Anton Waibel, wird zu 15 Jahren verurteilt. Nach 18 Monaten türmt er während eines Gefangenentransports. 1939 gerät er in die Hände der Nazis, die ihn bis 1945 ins KZ Buchenwald verschleppen, wo er, halbtot, von den Amerikanern befreit wird. 1969 stirbt er, 80-jährig. In der Todesanzeige steht: „Er kämpfte sein Leben lang für Gerechtigkeit in der Welt.“