Übersetzerin Florence hat ein Herz für Asylanten. Einer von ihnen lebt sogar unter ihrem Schreibtisch. Dragomir kommt, wie der Name schon sagt, aus dem Osten. Als Subunternehmer beliefert er Schuster mit Flickware, an der er unter Florences Tisch herumhämmert. Das Ganze hat nur eine Schwierigkeit: Er soll nicht so laut auf die Ledersohlen eindreschen und dazu noch aus voller Kehle singen, wenn es Nacht ist. Er müsse das verstehen, bittet Florence: die Nachbarn. . .
Bürgerliche Doppelmoral
Die Eingangsszenen von „Ein Winter unterm Tisch“ wirken wie Russland im 19. Jahrhundert. Dabei schrieb das Multitalent Roland Topor dieses sein Spätwerk in Reaktion auf die Flüchtlinge aus dem zerfallenen Jugoslawien. Die absurde Kernsituation unterm Tisch entfaltete er mit den Kniffen bewährter Handwerkskunst zu einer Szenenfolge, in der nach und nach zwei Repräsentanten der bürgerlichen Doppelmoral und ein lebenslustiger, selbstverständlich geigender Cousin Dragomirs einfallen. Man bangt mit Florence und Dragomir.
Dass der Zuschauer Empathie für die Vermieterin und ihren fremden Gast entwickelt, liegt weniger am witzigen Umgang Topors mit Klischees als an Mascha Eckert und Miro Nieselt. Die beiden – und Martina Essers Regie – versuchen gar nicht erst, mit irgendeiner Natürlichkeit für ihre Figuren einzunehmen. Das schaffen sie vielmehr auf entgegengesetztem Weg: Er zum Beispiel durch die Stilisierung, die ihm schon der slawische Akzent verleiht. Den dosiert Nieselt gerade recht. Eckert agiert mit genau gleichem Grad an Künstlichkeit, hier vor allem in Körperhaltung und Armgestik. Ihre Stimme bringt eine natürliche Begabung mit: hoch, naiv mädchenhaft, kein bisschen lächerlich, sondern mit viel Substanz unter sich.
Etwas stärker überzogen spielt Angelina Gerhardt als Florences Freundin. Das soll die Falschheit ihrer Figur enthüllen, stört aber die stilistische Einheit des gesamten Bühnengeschehens ein klein wenig. Dem Matthias Born ließe sich dasselbe vorhalten. Andererseits sieht man solche Knallköpfe wie den schmierigen Verleger immer wieder recht gern.
Ein überaus dreistes Finale
Dmitrij Maximov, der fiedelnde Cousin, umspinnt das Ensemble mit seiner Agilität und sorgt am Ende für eins der dreistesten Finale, die auf Bühnenbrettern denkbar sind.
Sehr schöne Details bieten auch die Umbaupausen. In denen erklingt der „Amelie“-Soundtrack von Yann Tiersen. Die Musik ist leider durch Straßenmusiker inzwischen arg abgegriffene, bringt die Schauspieler-Silhouetten vorm Blaulicht aber immer mal wieder zum Tanzen. Sehr schön.
Aufführungen: Roland Topors „Ein Winter unterm Tisch“. Bis 25. Februar Mi.-So, Reservierung: Tel. (09 31) 512 12; Infos: www.chambinzky.com