Für Dieter Unkel hat sich ein Kreis geschlossen. Er war dabei, als vor wenigen Tagen Bernhard Böttners großer Konzertflügel den Ochsenfurter Torturm in Sommerhausen für immer verließ. Fast genau 50 Jahre zuvor hatte Unkel als kleiner Bub staunend mitverfolgt, wie das Instrument durch ein Fenster in den Turm hineingehievt wurde. 2013 war der Pianist Bernhard Böttner gestorben. Mit dem Auszug des Flügels sei nun die Seele des Turms verschwunden, sagt Dieter Unkel bewegt.
Der 57-Jährige ist Inhaber des Hotels „Ritter Jörg“ in Sommerhausen. Als Kind schon lernte er Bernhard Böttner kennen, der Ende der 1950er Jahre mit seiner Frau Lili in den idyllischen Ort gekommen war. Unkels Eltern hatten damals ein Edeka-Geschäft in Sommerhausen.
Zu den Kunden zählten auch die Künstler des Ortes. „Luigi Malipiero lebte in der Wohnung über uns“, erinnert sich Dieter Unkel. „Ich brauchte nur die Treppe hinaufzusteigen, und schon kam ich aus unserer konservativen Kaufmannsfamilie in eine schillernde Theaterwelt.“
Bernhard Böttner lernte der kleine Dieter im Laden seiner Eltern kennen. Von Anfang an bestand eine tiefe Sympathie auf beiden Seiten. Dieter Unkel wurde Klavierschüler bei Lili Böttner, der Frau des Konzertpianisten. Auf dem Klavier in der elterlichen Wohnung, manchmal aber auch auf dem großen Flügel im Turm, unterrichtete die gebürtige Griechin den Jungen. Und alle paar Wochen kam Bernhard Böttner, der virtuose Pianist, selbst vorbei und überzeugte sich von den Fortschritten des kleinen Sommerhäusers.
„Spiel, mein Junge“, sagte Böttner dann jedes Mal, indem er sich mit weltmännischer Geste im Unkel'schen Wohnzimmersessel niederließ. Als Böttner in Sommerhausen heimisch wurde, war seine Karriere als Konzertpianist eigentlich schon beendet, sagt der Sommerhäuser Heinz Schenk, der Böttner ebenfalls gut kannte. 1964 initiierte der Pianist die hochkarätige Konzertreihe „Sommerhausen Recital“. 2013 starb er mit 89 Jahren in seiner Wahlheimat.
Bernhard und Lili Böttner hatten sich den Ochsenfurter Torturm als idyllischen Wohnsitz eingerichtet. Ohne seinen großen Konzertflügel aber wollte der Künstler dort nicht sein. Er ließ ihn per Kran durch ein schmales, aber hohes Fenster in den Turm bugsieren – damals ein spektakuläres Ereignis, das in der Sommerhäuser Ortschronik im Bild festgehalten ist.
Und auf demselben Weg hat das Instrument den Turm nun 50 Jahre später wieder verlassen. Erworben haben ihn Jendrik und Jared Rothe. Die beiden Brüder aus dem Odenwald richten in ihrem Betrieb alte Musikinstrumente wieder her, die dann verkauft werden. Klavierrestaurator Jendrik Rothe hat außerdem auch ein kleines Museum für ganz besondere Instrumente. Dort soll Bernhard Böttners Flügel einen Platz finden.
Der Fachmann und sein Bruder kennen die Besonderheiten und die Geschichte des Flügels. Es ist ein Bechstein Modell E, Baujahr 1905, aus poliertem Ebenholz. „Laut Liste ist dieser Flügel eigentlich wertlos“, sagt Jendrik Rothe. Zu alt und mit seiner Länge von 2,70 Metern für die meisten Kunden auch zu groß. Nicht mehr für eine Konzertbühne geeignet, sagt Rothe. Ohne eine fachgerechte und aufwendige Restaurierung könnte Rothe ihn nicht veräußern, denn die vielen Verschleißteile eines mehr als 100 Jahre alten Musikinstruments gehen mit der Zeit einfach kaputt.
Für Jendrik Rothe machen dieselben Eigenschaften, die seinen Marktwert mindern, den schwarzen Bechsteinflügel aber erst interessant. Ein großer alter Flügel, an dem noch fast alles original ist – nach so etwas sucht der Sammler.
Jendrik Rothe sieht in Böttners Flügel einen Vertreter jener Epoche, in der Deutschlands Klaviere ein Exportschlager des Landes waren, ähnlich wie heute deutsche Autos. „Diese große Zeit ging etwa von 1895 bis zum Ersten Weltkrieg“, erklärt Rothe. So, wie der Flügel dasteht, hat ihn Carl Bechstein noch entworfen.
Jared Rothe hat recherchiert, dass Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen den Flügel wahrscheinlich dem Komponisten Max Reger zum Geschenk machte, der der Herzogstochter darauf Klavierunterricht geben sollte. Reger vermachte den Flügel bei seinem Tod im Jahre 1916 vermutlich einem Solisten der sehr angesehenen Meininger Hofkapelle. Von diesem erwarb wohl Bernhard Böttners Schwester das Instrument. Den Zweiten Weltkrieg soll der Flügel übrigens, in Decken eingehüllt, irgendwo hinter der Bühne im Meininger Theater überstanden haben.
An der Seite von Bernhard Böttner verbrachte der Bechsteinflügel 50 ruhige Jahre in Sommerhausen. Musiker, die zum Sommerhausen Recital anreisten, spielten ab und an darauf. Und natürlich Böttner selbst. Mit dem Tod seiner geliebten Frau vor neun Jahren aber gab der Pianist das Klavierspiel für immer auf. Nie wieder hat das Instrument seither einen Ton von sich gegeben. Bis die Brüder Rothe kamen und es zum Abschied vom Turm noch einmal zum Klingen brachten.
Auch Dieter Unkel griff noch ein letztes Mal in die Tasten. Genau wie damals, als er noch ein Kind war. Ein paar Tränen sind bei ihm geflossen, als der Kleintransporter mit dem Flügel durch das Ochsenfurter Tor davonfuhr. „Wie er da in seiner schwarzen Hülle abtransportiert wurde, das war wie eine Beerdigung“, sagt Unkel. „Jetzt ist eine Ära abgeschlossen.“
Bernhard Böttner
Geboren wurde Bernhard Böttner 1924 im thüringischen Schmalkalden. Er wuchs in Meiningen auf. Nach dem Zweiten Weltkrieg studierte er Musik in Weimar und Leipzig. Sein Solistendebut gab Böttner 1947 mit der Dresdener Staatskapelle. 1949 heiratete er seine Frau Lili. Er trat als Solist mit den Münchener und Berliner Philharmonikern auf, spielte mit fast allen deutschen Rundfunksinfonieorchestern. In den 1950er Jahren mietete er in Sommerhausen den Ochsenfurter Torturm. 1964 initiierte er die Konzertreihe „Sommerhausen Recital“, für die er internationale Stars der klassischen Musikszene nach Unterfranken holte. Für sein Lebenswerk erhielt Bernhard Böttner 2005 das Bundesverdienstkreuz. Am 12. August 2013 starb er mit 89 Jahren.