Im Mai wird er 70. Normale Arbeitnehmer sind dann schon lange im Ruhestand. Aber Jürgen Lenssen ist kein normaler Arbeitnehmer. Der Mann ist Domkapitular und Kunstreferent der Diözese. In der Kirche ist man mit 70 noch nicht alt. Papst Franziskus war bei seiner Wahl 76, sein Vorgänger, Benedikt XVI. fast 78 Jahre.
Doch Jürgen Lenssen soll aufhören. Als Kunstreferent, als Domkapitular – und als Prediger. Will er das auch? „Das ist keine Frage des Wollens“, sagt der Kirchenmann, „natürlich muss irgendwann Schluss sein. Aber noch nicht unbedingt jetzt.“
Lenssen macht Bischof verantwortlich
Er würde gerne Seelsorger bleiben. „Das kann ich aber nicht selbst entscheiden“, sagt er, „das entscheidet der Bischof.“ Kirche ist Hierarchie. Zum Jahresanfang hat Lenssen im Dom verkündet, dass seine Sonntagsmessen ab Mai der Vergangenheit angehören.
Lenssen erzählt, dass der neue Kunstreferent „kein Priester mehr sein wird“. Das sei, sagt er, „bei dem herrschenden Priestermangel nicht zu verantworten“. Dass er, wegen dessen Predigten jeden Sonntag 500 bis 700 Menschen in den Dom strömen, aufhören soll, obwohl er nicht möchte, aber doch? Lenssen lässt die Frage unbeantwortet.
Bischof Friedhelm Hofmann ist fast auf den Tag genau fünf Jahre älter als Jürgen Lenssen. Er tritt in diesem Jahr seinen Ruhestand an. Warum dann auch Lenssen aufhören soll? Bistumssprecher Bernhard Schweßinger lässt die Anfrage der Redaktion von Domprobst Ulrich Boom beantworten. Dieser ist als Chef des Domkapitels auch verantwortlich für Dom-Gottesdienste – und weiß offenbar nichts von der angeblich bischöflichen Entscheidung, die der Kunstreferent am 1. Januar bekannt gegeben hat. Nach Booms Einschätzung sei es Lenssen „auch nach Annahme des Ruhestands“ weiterhin möglich, die 11.30-Uhr-Messe im Dom zu halten, sagt Schweßinger.
Lennsen bürstet gerne gegen den Strich
Seit 2004 ist Hofmann Bischof von Würzburg. Wie Lenssen ist er studierter Theologe und Kunstgeschichtler. Viel mehr haben die beiden nicht gemeinsam. Lenssen bürstet gerne gegen den Strich, er nennt die Schwachstellen der Kirche, er provoziert, er ist der modernen Kunst zugetan. Der Bischof ist einer, der noch vor seinem Amtsantritt den nackten „Auferstandenen“, ein Gemälde des zeitgenössischen Malers Michael Triegel, im Museum am Dom vom Nagel nehmen ließ. Selbst mochte Hofmann sich damals nicht zu dieser Aktion äußern. Schweßinger erklärte, seinem neuen Chef sei es ein Anliegen, in einem kirchlichen Museum nicht das Schamgefühl vieler Menschen zu verletzen.
Die Entscheidung des Bischofs war Wasser auf die Mühlen von Lenssens Gegnern, deren es viele gibt im konservativen, katholischen Lager. Sie witterten Morgenluft. Aufräumen sollte der neue Bischof, durchgreifen und den ungeliebten Lenssen entmachten, für den Kunst auch noch im 20. und 21. Jahrhundert stattfindet und der auch Menschen anspricht, die der Kirche kritisch gegenüber stehen.
2012 gab es wieder Ärger. „Abendmahl und 12 Begleiter“ heißt das Werk des Künstlers Henning von Gierke, das im Dommuseum für Unruhe sorgte, weil einige der Dargestellten nackt sind. „Politisch korrekter Kitsch ist das, mehr nicht“, titelte das Webmagazin „Christliches Forum“. In Leserzuschriften empörten sich christliche Hardliner, griffen Gierke an: „Machen Sie sogenannter Künstler doch so eine Schweinerei mit einem islamischen Motiv!“ Lenssens Reaktion: „Abendmahl ist für mich überall da, wo die Feier des Lebens geschieht.“
Lennsens Aufgabenbereich wurde eingedampft
Ein Jahr später wurden die Zuständigkeiten im Ordinariat umstrukturiert, Lenssens Aufgabenbereich wurde eingedampft. Nach 24 Jahren als Leiter des Bau- und Kunstreferats war er nun nur noch Kunstreferent. Kurz zuvor war „Das Opfer“, eine Bronzeskulptur von Wieland Förster, aus der Krypta des von Lenssen neu gestalteten Doms entfernt worden. Begründung: Weder der Bischof, noch das Domkapitel habe die Aufstellung genehmigt.
Die Menschen, die Lenssen schätzen, kennen alle diese Geschichten. Sie wissen, dass der Mann Ecken hat und Kanten, dass er streitbar ist, unbequem und ein Querdenker . Und sie mögen ihn, nicht, obwohl er so ist, wie er ist, sondern gerade deshalb. Aus diesem Grund pilgern sie jeden Sonntag in den Dom. Um 11.30-Uhr ist Lenssen-Zeit.
Die große Kirche ist dann auffallend gut besucht. Ein paar Alte, ein paar Junge, die meisten, die hier sitzen, sind mittleren Alters. Lenssen steigt auf die Kanzel. Er ist ein glänzender Redner, „Spaltung“ ist sein Thema, die Predigt ist ganz nah an der Zeit. Donald Trumps Erfolg, seine Methode, „mit geübter, rücksichtsloser Emotionalität“ das amerikanische Volk zu spalten, habe den europäischen Nationalisten Aufwind gegeben, sagt er. Siegen wollten sie, um jeden Preis. „Auch um den der Wahrheit.“ Dann schlägt er den Bogen zur Kirche. Der „Ansatz der Nationalisten, sich von der Spaltung her zu definieren“, sei „der Kirche nicht fremd“.
Immer schon habe es dort „Rivalität“ gegeben, immer schon „übersteigertes Profilierungsdenken“. Bemühungen, die Spaltung zu überwinden, dienten „oft nur dem äußeren Erscheinungsbild“. Und sie täuschten nicht darüber hinweg, „dass der Wille nicht wirklich stark“ sei. „Sonst hätte man schon mehr erreicht.“ Lenssen redet halt Klartext.
Lenssens Fans sind traurig
Nach der Messe treffen sich einige seiner Fans in einem Café. Ex-Oberbürgermeisterin Pia Beckmann, eine stramme Katholikin ist dabei, ihr Mann Klaus Hiltrop, der mit Kirche nicht so viel am Hut hat, die Protestanten Hanne und Udo Rothe, das Ehepaar Wegmann, das jeden Sonntag aus Sulzfeld kommt, Rainer Ehrenfels aus Karlstadt, Peter Koller aus Eisingen … „Wir sind die „Halbzwölfuhr-Domgemeinde‘“ sagen sie und lachen. Aber eigentlich sind sie traurig. Sie wissen nicht, dass der Weihbischof was anderes sagt, als, laut Lenssen, der Bischof. Ihre Erkundigungen haben ergeben, dass Lenssen die 11.30-Uhr-Messe wohl nicht mehr halten darf. „Ich würde das ja verstehen, wenn im Hintergrund Dutzende junge Priester stünden, die mit den Hufen scharren“, sagt Klaus Hiltrop, „aber es gibt doch kaum Priesternachwuchs“.
Die „Halbzwölfuhr-Domgemeinde“ will kämpfen für ihren Seelsorger. „Es gibt Pläne, die über 160 Pfarrgemeinschaften auf nur noch 40 zu reduzieren“, sagt Pia Beckmann, „da ist es unverständlich, wenn jemand, der freiwillig seinen Dienst fortsetzen möchte, daran gehindert werden soll.“
Lenssen gibt seinen Fans etwas. Edith Ehehalt bekommt bei ihm „Kraft für die Woche“. Rosi Hetzler geht „mit tiefer Befriedigung“ nach Hause. „Wenn ich die Predigt nicht gehört habe, fehlt mir was“, sagt sie. Peter Koller gefällt, wie Lenssen das Evangelium vermittelt: „Er zeigt, wie man als Christ in der Gesellschaft einen Beitrag leisten kann.“ Es träfe sie alle hart, würden sie Lenssen als Prediger verlieren. „Es ist uns ein Anliegen, dass er den Sonntagsgottesdienst auch in Zukunft hält“, sagt Rudolf Riepel und die anderen nicken.
Lenssen-Fans sammeln Unterschriften
Jetzt macht die „Halbzwölfuhr-Domgemeinde“ mobil. An diesem Sonntag, nach der 11.30-Uhr-Messe, wird sie Unterschriften sammeln. „Lieber Bischof Friedhelm, liebes Domkapitel, lieber Herr Dompfarrer“, ist ihr Appell überschrieben, „wir haben erfahren, dass unser Seelsorger Dr. Lenssen am 7. Mai seine letzte Halbzwölfuhr-Messe im Dom halten soll. Wir schätzen die Impulse, die er uns im Gottesdienst für die Woche mitgibt, sehr. Ihm gelingt es immer wieder, unsere Seelen zu berühren. Deshalb bitten wir, die Unterzeichner, Sie: Lassen Sie unseren Seelsorger auch nach dem 7. Mai 2017 im Dom für uns da sein. Wir möchten ihn nicht verlieren. Vergelt?s Gott!“
Die Lenssen-Fans erhoffen sich viel Unterstützung. „500 Unterschriften wären ein beeindruckendes Statement“, sagt Klaus Hiltrop. Und hofft mit seinen Mitstreitern, dass der Bischof das auch so sieht.