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SEGNITZ: Ein Kleid aus Fallschirmseide

SEGNITZ

Ein Kleid aus Fallschirmseide

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    So ähnlich: Dieses Kleid aus Fallschirmseide nähte sich die Mutter von Gemeindearchivar Norbert Bischoff. Das Kleid, das Nelly Küpper 1945 als Erinnerung an Segnitz mitnahm, existiert heute nicht mehr.
    So ähnlich: Dieses Kleid aus Fallschirmseide nähte sich die Mutter von Gemeindearchivar Norbert Bischoff. Das Kleid, das Nelly Küpper 1945 als Erinnerung an Segnitz mitnahm, existiert heute nicht mehr. Foto: Foto: Norbert Bischoff

    Ein US-amerikanischer Militärtransport aus Bamberg traf im Mai 1945 in Segnitz ein. Die Mädchengruppe, die sich darunter befand und von Segnitzer Familien aufgenommen wurde, hatte eine weite und lange Reise hinter sich. Begonnen hatte sie eines Nachts im April 1945 im sudetendeutschen Tüppelsgrün (heute: Dìpoltovice, Tschechien) bei Karlsbad.

    Mit der nationalsozialistischen Kinderlandverschickung (KLV) waren die 13-jährige Petronella (Nelly) Küpper und ihre ein Jahr jüngere Schwester Eleonore aus dem nordrhein-westfälischen Düren im Januar 1944 nach Tüppelsgrün gekommen. Die Habseligkeiten der beiden Mädchen passten zu der Zeit im Zweiten Weltkrieg in zwei Persil-Kartons. Die Zeit im KLV-Lager war für Nelly – trotz Heimwehs – zunächst recht angenehm, berichtete sie ihrer Tochter Rosi Plücken, die heute die Vergangenheit ihrer Mutter erforscht. Mit dem Näherrücken der Front litten die Kinder im Lager aber mehr und mehr Hunger.

    „Sie sah so schön aus in ihrem roten Kleid. Das war der schönste Tag in meinem Leben.“

    Nelly Küpper über das Wiedersehen mit ihrer Mutter

    In der Aprilnacht schließlich weckte die Lagerleiterin Clara Lehn Nelly und die anderen Mädchen und trat mit ihnen die Flucht vor der Roten Armee an, die sie am Ende nach Segnitz führen sollte. Die Kinder mussten ihre Sachen in Bettlaken zusammenpacken und das Lager schnell verlassen. Über mehrere Wochen floh die Gruppe zu Fuß und nachts vor den russischen Soldaten durch die Wälder, bis sie ein Flüchtlingslager der Amerikaner erreichten. Von dort ging es nach Bamberg, wo die Mädchen schließlich den Laster nach Segnitz bestiegen.

    Seit 16 Jahren erforscht Rosi Plücken die Geschichte ihrer Familie, anhand von Erzählungen, mit der Hilfe von Archiven und dem Internet. Die Spuren aus der Vergangenheit – genauer gesagt eine Eintragung aus der Einwohnermeldekartei in Düren – haben sie nun auch nach Segnitz geführt, wo ihre Mutter die Monate unmittelbar nach dem Ende des Krieges verbrachte. Aus Segnitz stammt auch das Kleid aus Fallschirmseide, in dem Rosi Plücken 1953 getauft wurde. Es fiel buchstäblich vom Himmel.

    „Das war eine traurige Zeit im Krieg, über die ich nicht reden möchte. Und wen interessiert das überhaupt?“ Solche Antworten bekam die Tochter in der Regel von ihrer Mutter, wenn sie sie in der Vergangenheit zu ihren Erlebnissen am Ende des zweiten Weltkrieges befragte. Erst seit Nelly Küpper zunehmend an Altersdemenz leidet, erinnert sie sich gerne. Bisweilen erzählt sie von der Zeit in Tüppelsgrün und Segnitz: „Das macht Spaß, darüber zu reden. Daran kann ich mich noch erinnern. Aber das, was gestern war, weiß ich nicht mehr“, sagte sie einmal.

    In Segnitz kamen die Mädchen aus Tüppelsgrün – vor ihrer Heimkehr Richtung Köln – vorübergehend in Pflegefamilien unter. Nelly wurde von der Familie von Leonhard Müller aufgenommen. Man sei immer sehr nett zu ihr gewesen, sagte sie der Tochter. Mit dem damals sechsjährigen Sohn Hans teilte sie sich ein Bett und ging wohl kurze Zeit in Ochsenfurt zur Schule. Nelly half – wie die anderen Mädchen, die ebenfalls in dem Ort am Main und wohl auch in Nachbardörfern untergekommen waren – im Haushalt oder auf dem Feld. Gerne machte sie am Abend auf der Treppe vor dem Haus Handarbeiten und ging mit zur Arbeit in den Weinbergen. In der kargen Nachkriegszeit konnte man sich da „an Trauben satt essen“, hat sie ihrer Tochter erzählt.

    Der amerikanische Militärtransport hatte nach Segnitz, neben den Mädchen aus Tüppelsgrün, auch eine Gruppe von Säuglingen und Kleinkindern gebracht. Die Babys wurden zunächst im Kindergarten untergebracht und Nelly half bei ihrer Versorgung. „Die Soldaten waren auch froh, dass wir uns um die Kinder kümmerten“, berichtete sie. Herkunft und Verbleib dieser Kinder sind heute unbekannt.

    Ebenfalls unbekannt war Nelly und ihrer Schwester damals in Segnitz, ob ihre Familie in Nordrhein-Westfalen den Krieg unbeschadet überstanden hatte. Um so größer war die Freude für Nelly, als ihre Mutter im Dezember 1945 unverhofft im Haus der Müllers vor ihr stand. „Sie sah so schön aus in ihrem roten Kleid. Das war der schönste Tag in meinem Leben“, sagte sie später.

    „Meine Großmutter muss über den Suchdienst des Roten Kreuzes die Anschrift in Segnitz erhalten haben“, mutmaßt Rosi Plücken heute. Für Nelly hieß es nun Abschied nehmen von Segnitz. Rasch wurden die Formalitäten erledigt und es ging mit dem Zug zurück nach Düren, das Nelly fast zwei Jahre zuvor verlassen hatte. Zum Abschied malte das zeichnerisch begabte Mädchen dem kleinen Hans Müller eigens einen Struwwelpeter.

    Nelly selbst nahm als Erinnerung an Segnitz ein Kleid aus Fallschirmseide mit. Es war eines von drei Kleidern, das die Pflegemutter ihrer Schwester aus einem gefundenen Fallschirm für ihre Tochter und die beiden Mädchen aus Düren genäht hatte. Nach der Heimkehr wurde aus dem zu klein gewordenen Kleid eine Bluse. Und nach der Hochzeit 1951 und der Geburt ihres ersten Kindes ein Jahr später dann schließlich ein Taufkleid. Zum Bedauern der Familie existiert es heute nicht mehr.

    Rosi Plücken hat Tüppelsgrün und Segnitz im Frühsommer besucht. Denn die Nachforschungen zur Geschichte ihrer Mutter wurden „eine ganz spannende Geschichte für mich“, sagt sie. Ihre Mutter Nelly, die seit ihrer Hochzeit den Nachnamen Graßmeier trägt und seit 2011 in einem Seniorenheim lebt, konnte sie wegen ihrer Krankheit nicht begleiten. Um so mehr freute sie sich über mitgebrachte Fotos, die die Erinnerungen an die Vergangenheit wieder wach werden lassen. Mitarbeit: Anna-Lena Herbert

    Zeitzeuge? Wer mehr über die Mädchen aus Tüppelsgrün oder die im Kindergarten untergebrachten Säuglinge und Kleinkinder weiß, wendet sich an Norbert Bischoff vom Gemeindearchiv Segnitz unter Tel. (0 93 32) 91 38.

    Kinderlandverschickung

    Die Kinderlandverschickung (KLV) war eine Maßnahme der Sozialfürsorge, die es schon vor 1933 gab. Gesundheitlich angeschlagene oder kranke Kinder sollten auf dem Land aufgepäppelt werden und sich dort erholen.

    Im Nationalsozialismus nutzte man die KLV, um die Kinder auch im Sinne der Ideologie des Dritten Reichs zu erziehen. Gleichzeitig stellte man die Mütter so für kriegswichtige Arbeiten frei. Vor allem ab 1940 diente die KLV dazu, Kinder – aus vom Luftkrieg bedrohten Städten – in weniger gefährdeten Gebieten unterzubringen. Die in der Regel von der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt organisierte KLV betraf nahezu alle bis zur Schulentlassung. Dabei waren die Kinder von zehn bis 14 Jahren oftmals als Klasse in KLV-Lagern untergebracht. NB/HELA

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