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Ochsenfurt: Ein Monat zwischen Alptraum und Alltag

Ochsenfurt

Ein Monat zwischen Alptraum und Alltag

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    _ Foto: Thomas Fritz

    Die eine hat sich den Kameras gestellt, in Mikrofone gesprochen, sich angreifbar gemacht, ihren Selbstschutz aufgegeben. Sie sprach nach dem Axt-Attentat in Würzburg gefühlt mit 50 Journalisten, brach danach erschöpft zusammen. Die andere hat sich zurückgehalten, zumindest nach außen hin. Sie hat ihre Arbeit gemacht und wollte für die geflüchteten Jungs da sein, sie schützen.

    Die eine, Simone Barrientos, ist Verlegerin und kümmert sich in Ochsenfurt ehrenamtlich um Flüchtlinge, vor allem um die Minderjährigen.

    Die andere, Renate Braunbeck, leitet das Kolpinghaus in Ochsenfurt. Hier leben bis zu 18 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Ausschließlich Jungs. Unter ihnen auch der 17-jährige Riaz Khan Ahmadzai. Elf Monate lang. Dann nahm ihn eine Pflegefamilie in Gaukönigshofen auf, einem kleinen Ort bei Ochsenfurt. 14 Tage später, am 18. Juli, stieg Riaz Khan Ahmadzai abends in den Regionalzug Richtung Würzburg – und beging das, was die beiden Frauen „eine schreckliche Tat“ nennen. Beide haben seitdem viele Fragen. Fragen, die vier Wochen nach dem Attentat noch immer unbeantwortet sind.

    Renate Braunbeck trifft ihre Schützlinge jeden Tag. Sie reicht ihnen die Hände, spricht mit ihnen, sitzt mit am Mittagstisch, geht mit ihnen schwimmen, unternimmt Ausflüge. Darauf, dass einer von ihnen plötzlich ausrastet, zur Axt greift, in einen Zug steigt, wahllos Menschen angreift, sie schwer verletzt – „darauf ist keiner vorbereitet, das denkt man auch nicht“, sagt sie. „Es sei denn, es gibt Anzeichen dafür.“ Doch diese Anzeichen hat sie bei Riaz nicht gesehen. Sie hat ihn als einen Jungen kennen gelernt, der sich eingebracht, sich beteiligt hat, der offen war, sich ein Leben in Deutschland aufbauen wollte. „Der einen guten Weg gegangen ist.“ Es fällt ihr sehr schwer, in ihm einen bösartigen Terroristen zu sehen. „Mit uns hat er doch friedlich zusammengelebt.“ Bis heute habe sie nicht verstanden, warum Riaz diese „schlimme Tat“ begangen hat. „Was ist da passiert? Was war der Auslöser?“ Fragen, auf die Braunbeck Antworten sucht. Fragen, auf die sie wahrscheinlich niemals eine Antwort finden wird.

    Um Antworten zu finden arbeitet das Betreuungsteam um Renate Braunbeck seit dem Attentat mit dem „Violence Prevential Network“ zusammen – mit Fachkräften also, die sich seit Jahren darum bemühen ideologisch oder religiös motivierte Gewalttaten von Jugendlichen zu verhindern. In fünf Bundesländern, darunter auch Bayern, gibt es Beratungsstellen. Vor allem eines interessiert die Sozialpädagogin. „Hätten wir erkennen können, zu was Riaz fähig ist? Welche Faktoren gibt es, die auf eine Radikalisierung hindeuten?“ Nein, Renate Braunbeck und ihre Mitarbeiter hätten nicht erkennen können, dass aus Riaz ein brutaler Terrorist wird, sagen die Fachleute. „Das gibt uns eine Entlastung.“ Dennoch sei ihr Blick jetzt geschärft. Sie weiß, dass so etwas wieder geschehen könnte. Auch, weil es mittlerweile Medienberichte darüber gibt, dass Mitglieder der islamistischen Terrororganisation gezielt labile Jugendliche ansprechen. Alle geflüchteten Jugendlichen nun aber misstrauisch gegenüber zu stehen, hält sie für falsch: „Traumatisierte Jugendliche brauchen Beziehung, feste Ansprechpartner, Unterstützung – aber keinen Generalverdacht.“

    Nicht nur Braunbeck sucht nach Antworten. Auch viele der geflüchteten Jungs, die mit Riaz befreundet waren. Warum hat ihr Freund das getan? Das, wovor sie in ihrer Heimat geflohen sind? Gerade die Gräueltaten des Islamischen Staates spielen in den Fluchtgeschichten vieler Jugendlicher eine wesentliche Rolle, erzählt Braunbeck. Tagtäglich erfährt sie davon, wenn sie sich mit den Jugendlichen unterhält. Dass sich jemand in die Luft sprengt, sei für viele Alltag gewesen. „Was wiederum für uns erschreckend ist, dass die Jugendlichen das schon als Alltag bezeichnen.“ Und, dass nun ausgerechnet ihr Freund jenen Frieden, den sie in Deutschland nach ihrer langen Flucht gefunden haben, wieder zerstört, mögen sie einfach nicht glauben. Sie verstehen nicht, warum sie alle jetzt wieder im Fokus stehen, verhört werden, auf einmal so viel Ablehnung erfahren.

    Braunbeck wollte das verhindern. Sie wollte die Jungs schützen. Schützen vor den massiven Übergriffen einzelner Journalisten, vor Pöbeleien auf der Straße. Nicht immer ist ihr das gelungen. Nach dem Attentat durfte der eine oder andere sein Praktikum nicht beenden oder wurde dumm von der Seite angeredet, erzählt sie. So soll ein Junge von einem Passanten gefragt worden sein: „Wo hast Du denn Deine Axt, wo Dein Messer?“

    Renate Braunbeck weiß, dass dies nicht spurlos an den Jugendlichen, die durch ihre Flucht und dem Erlebten in ihren Heimatländern sowieso schon schwer traumatisiert sind, vorübergeht. Auch deswegen ist es ihr wichtig, die Jungs gut zu begleiten. Gerade weil die Jugendlichen nach dem Attentat ziemlich verunsichert waren, hat Kolping das Personal in der Ochsenfurter Einrichtung aufgestockt. „Jetzt stehen mehr Ansprechpartner zur Verfügung, vor allem auch nachts, wenn viele Jugendliche emotional belastet jemanden zum Reden brauchen.“ Alle Jugendliche, gerade auch jene, die Riaz gut gekannt haben, können sich abends in Gesprächskreisen austauschen. Ein Angebot, das sehr gut angenommen worden sei.

    Am Konzept, die Jungs individuell im Alltag zu betreuen, ihnen Hilfestellung zu geben, sie zur Selbstständigkeit anzuhalten, will Renate Braunbeck nichts ändern. „Die Jugendlichen müssen erst einmal in dieses neue Leben hineinfinden, müssen wissen, wie funktioniert ein Fahrkartenautomat, wie kaufe ich ein. Das ist alltagspraktischer Unterricht, kein Bemuttern.“ Etwas, das es woanders in dieser Form kaum geben würde. „Das ist eher das Problem.“

    Und noch etwas kritisiert Braunbeck. Dass den Jugendlichen mit 18 Jahren keine Jugendhilfe mehr zusteht, dass sie von heute auf morgen völlig selbstständig und allein agieren müssen, ist aus ihrer Sicht problematisch. Solang die Jungs in der Einrichtung sind, würden sie die Unterstützung bekommen, die sie auch brauchen – egal ob Trauma- oder Psychotherapeut. Aber auch danach bräuchten sie professionelle Helfer. „In Ochsenfurt sind wir noch in einer glücklichen Lage. Hier können wir auch die Nachbetreuung leisten.“ Doch anderswo seien die jungen Leute mit dem Drohenden konfrontiert, mit der Ungewissheit, nicht zu wissen, wie es weitergeht. „Das ist letztendlich wieder eine schwere Traumatisierung“, sagt Renate Braunbeck.

    Flüchtlingshelferin Simone Barrientos hat sich gerade wieder mit einem Journalisten getroffen. Vier Wochen nach dem Attentat sind es aber längst nicht mehr so viele, die sich in der Kleinstadt auf Spurensuche nach dem Attentäter begeben. Anders als Braunbeck hat die ehrenamtliche Helferin Riaz nur flüchtig gekannt. Dennoch hat sie viel zu sagen, denn auch sie wollte die Jugendlichen schützen, und die Ochsenfurter und Kolping. „Ich habe mich bewusst in die Schusslinie gestellt, damit die anderen in Frieden gelassen werden.“ Auch, weil sie Furcht vor Spekulationen hatte und davor, die vielen Journalisten in der Stadt könnten doch auf jemanden treffen, der „Blödsinn“ erzählt über Geflüchtete. Barrientos weiß wie sie mit den Medien umzugehen hat. Sie war im Brennpunkt der ARD zu sehen, in den Tagesthemen, diskutierte mit Joachim Herrmann in der Münchner Runde des BR.

    Simone Barrientos ist eine Macherin, ihr Umgang mit den jungen Geflüchteten beeindruckt. „Ich bin einfach da“, sagt sie. Einige nennen sie sogar Mama. Dabei entspricht sie so gar nicht der Kultur, in der viele der geflüchteten Jugendlichen aufgewachsen sind. Selbstbewusst tritt sie auf, mit wehendem Haar, engen Kleidern, großzügigem Ausschnitt. Schnell unterliegt man dem Eindruck, diese Frau haut nichts so schnell um. Bis zu einem gewissen Grad hat Barrientos nach dem Attentat auch funktioniert. Immer wieder ist sie den gleichen Fragen mit den gleichen Antworten begegnet, hat nachdenklich in Kameras geblickt, Reportern die gleichen Sätze diktiert. „Dafür sorgt schon allein das Adrenalin.“ Bei einer Veranstaltung zum bayerischen Integrationsgesetz in der Ochsenfurter Stadtbücherei fällt sie in Ohnmacht, ihr Kreislauf klappt zusammen. „Ich war völlig am Ende, emotional als auch kräftemäßig.“

    Simone Barrientos hatte keine Zeit über das Geschehen nachzudenken. Auch das könnte zu ihrem Schwächeanfall geführt haben, erkennt sie heute, vier Wochen danach. Dabei hätte sie sich so sehr gewünscht, mit jemanden darüber zu reden, vielleicht getröstet zu werden, einfach mal zur Ruhe zu kommen. Eine Antwort auf die Frage nach dem Warum zu finden. Sie fühlte sich manchmal alleingelassen, abgeschnitten von den Menschen in der Stadt. Zwei Stunden hat sich die bekennende Atheistin daher mit dem Stadtpfarrer unterhalten. „Weil ich mal jemanden brauchte, der mir zuhört. Das hat mir gutgetan.“

    Barrientos hat, wie sie selbst sagt, ihre „Haut zu Markte getragen“. Dabei war ihr bewusst, dass ihre Äußerungen nicht überall auf Gegenliebe stoßen. Ärgerlich sei, dass manche ihr vorwarfen, sie würde nur mit dem Täter fühlen, nicht mit den Opfern. „Was sicherlich auch daran lag, dass die Interviews verkürzt wiedergegeben wurden.“ Als jemand, der professionell mit Medien umzugehen weiß, kenne sie das. Sie weiß, wie sie darauf reagieren muss. So hat sie durchgesetzt, dass die vielen Kommentare, darunter auch viel Schmähkritik nach ihrem Interview auf der Facebook-Seite der Tagesschau, moderiert werden.

    Simone Barrientos und Renate Braunbeck haben sich seit dem Attentat nicht gesprochen. Es hat sich nicht ergeben. Sie würden feststellen, dass sie in vielem einer Meinung sind, dass sie das Gleiche wollen. Vielleicht würde es den beiden Frauen helfen, miteinander zu reden – um gemeinsam Antworten auf die offenen Fragen zu finden. Es wäre ihnen zu wünschen.

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