Diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen, glich einem Puzzlespiel, an dem Damian Dombrowski eine ganze Weile arbeiten musste. Doch vielleicht passt das Bild eines Mosaiks besser, denn Steinchen für Steinchen hat der Kunsthistoriker zusammengetragen, bis sich ein ebenso stimmiges wie verblüffendes Gesamtbild ergab.
Die Geschichte beginnt damit, dass dem Direktor des Martin von Wagner Museums die Christusfigur an der Südseite der Domsepultur auffiel, die ein wenig wirkt, als gehöre sie nicht dort hin. Anhand der Ornamente, die die Christusfigur umgeben, war für Damian Dombrowski rasch klar, dass Figur und Rahmen eine nachträgliche Zutat sind, aus der Zeit um 1700 stammen. „Das ist noch kein Rokoko, das ist aber auch kein Spätrenaissance-Ornament mehr“, ordnet er die Elemente ein.
Die Spur der Originalfigur führt zur alten Universitätskirche
Dombrowski begann zu recherchieren und fand heraus, dass diese Figur an der Fassade des Doms eine andere ersetzt hatte. „Es ist die Kopie einer Skulptur aus der Spätrenaissance, die in den Abgang zur Krypta versetzt wurde. Die Figur an der Außenwand der Sepultur befindet sich seit den 1960er-Jahren an Ort und Stelle.“ Doch wo war wiederum die Originalfigur hergekommen, an der alle vorübergehen, die zur Krypta hinabsteigen? Dombrowski recherchierte weiter. Was er hatte, waren die zeitlichen Koordinaten. „Mir war klar, dass diese Figur um 1700 hier hergekommen sein muss. Und 1699 hat man angefangen, die Universitätskirche wiederaufzubauen.“
Das Gotteshaus war damals baufällig geworden. Im Jahr 1626 war es zu einem Teileinsturz des Gewölbes gekommen. In der Folge wurde die Südwand abgetragen und es sollte – nicht zuletzt wegen des Dreißigjährigen Krieges und seinen Folgen – ein Dreivierteljahrhundert dauern, bis wieder ein Dach auf die Kirche kam. Das setzte dem Innenraum freilich stark zu. „Angeblich ist gar nichts mehr von der ursprünglichen Ausstattungder Universitätskirche übrig“, sagt Dombrowski. „Weder vom Herzgrab Julius Echters noch von dem spektakulären Hochaltar, der sich einst in der Apsis erhob.“ Oder doch?

Von jenem von dem niederländischen Bildhauer Jan Robijn geschaffenen Hochaltar gibt es sehr genaue Beschreibungen aus dem Jahr 1591. In der Novae aedis adumbratio, die 1591 zur Einweihung der Universitätskirche, auch Neubaukirche genannt, erschien, ist die Rede von einer Christusfigur, die genauso aussieht, wie die beiden Figuren am und im Dom. „Ich bin mir fast sicher, dass doch etwas von dem Hochaltar übrig geblieben ist – ebendiese Christusfigur“, sagt Dombrowski und erklärt, warum gerade diese Skulptur den Verfall der Kirche überstanden haben könnte.
„Das Problem war Wasser, das von oben kam, weil es kein Dach mehr gab. Aber die Figur stand direkt unterhalb der Apsiskalotte und diese wirkte wie ein Schirm. Daher hat es eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich, dass diese Figur, die ganz oben stand, all die Jahrzehnte überstanden hat.“ Den Hochaltar schildert Dombrowski in einem Aufsatz als „Steigerung des Retabels im Juliusspital“, der freilich auch verloren ist. „In der Universitätskirche gliederte er sich in vier Register; die architektonischen Anteile bestanden aus Sandstein, die bildhauerischen aus Alabaster. Unten flankierten Reliefs des Abendmahls und des Passahmals das Tabernakel über der Mensa. Darüber bildete die (…) Kreuzigung das Hauptmotiv; möglicherweise bestand sie aus vollrunden Figuren (...)“, beschreibt es der Kunsthistoriker.
Die Figur trotzte Wetterunbilden und der Zerstörung des Domes 1945
Und weiter: „In den Reliefs des dritten Registers erschienen die Auferstehung Christi und die Geschichte von Jona und dem Wal nebeneinander als typologische Entsprechungen. Das oberste Register zeigte eine Darstellung des Pfingstwunders. Eine Statue des Salvators bekrönte den Altar, um den sich einzelne Figuren der Jünger über die Altararchitektur verteilten.“ Die Christusfigur entspreche der kurzen Charakterisierung, die in der Adumbratio (Skizze) für die Statue auf der Spitze des Hochaltars – Imago Salvatoris in apice altaris – vorgenommen wird. Demnach trägt sie nämlich die Weltkugel im linken Arm und hat die rechte Hand zum Segnen erhoben.
Und eben eine solche Ikonographie weist der Christus im Dom auf. Dombrowski schlussfolgert: „Der Salvator wäre, wenn die Provenienz aus der Universitätskirche zutreffend ist, das einzige erhaltene Werk aus der Würzburger Zeit Jan Robijns. Von sämtlichen beglaubigten Werken dieses Bildhauers hat kein weiteres überlebt, sodass Aussagen zu seinem Stil kaum möglich sind.“ Damit wäre von dem Hochaltar, den Dombrowski „die großartigste Schöpfung niederländischer Plastik in Würzburg“ nennt, tatsächlich noch etwas übrig geblieben: ein Christus, um den herum alles zusammenstürzte, der jahrzehntelang in einer Ruine Wind und Wetter trotzte, an der Domwand weitere 250 Jahre der Witterung ausgesetzt war und schließlich im Dom wiederauferstand.
Text: Eva-Maria Bast
Der Text stammt aus dem Buch „Würzburger Geheimnisse - Band 2“ von Eva-Maria Bast, das in Kooperation mit der Main-Post entstand und soeben erschienen ist. Das Buch enthält 50 Geschichten zu historischen Geschehnissen und Orten. Präsentiert werden die Begebenheiten jeweils von Würzburger Bürgern.