Ob die Entführer von Markus Würth die Nerven verloren? Oder Mitleid bekamen mit dem behinderten 50-jährigen Sohn des Unternehmers Reinhold Würth und seinem harten Schicksal? Bisher rätseln die Ermittler noch, die unter Hochdruck nach den Entführern suchen.
Letztere hatten ein Lösegeld von angeblich drei Millionen Euro gefordert, nachdem sie Markus am Mittwoch gekidnappt hatten. Schließlich karrten sie ihr Opfer in der Nacht – vermutlich von der Autobahn kommend – bei Kist (Lkr. Würzburg) in ein Waldstück nahe der Autobahn A 3. Sie fesselten den Sohn des Milliardärs an einen Baum. Dann teilten sie die genauen Koordinaten mit, damit er auch ja gefunden werde.
Am Morgen kreisten zwei Hubschrauber über der Stelle. Die Polizei war mit Suchhunden im Einsatz. Das Gelände war weiträumig abgesperrt. Am Firmensitz im württembergischen Künzelsau (knapp 70 Kilometer südlich von Würzburg) atmete man auf, als die Nachricht kam: Markus Würth ist gefunden und wohlauf.
Aus der Behinderung seines Sohnes von Kindesbeinen an durch einen Impfunfall hatte der knorrige Würth, einer der acht reichsten Unternehmer Deutschlands und ein großer Kunstmäzen, nie viel Aufhebens gemacht. „Das Schicksal macht keinen Unterschied zwischen Reich und Arm“, sagte der „Schraubenkönig“ 2014 gewohnt unverblümt. „Der Markus sollte als Baby drei Mal im Abstand von drei Wochen geimpft werden. Schon nach der ersten Impfung hatte er hohes Fieber. Nach der zweiten Impfung hatte Markus ein halbes Jahr Fieber. Als wir später mit Kinderärzten darüber sprachen, schlugen sie die Hände über dem Kopf zusammen.“
Reinhold Würth wurde in einem Interview zu seinem 80. Geburtstag im vergangenen Jahr gefragt, ob sein christlicher Glaube durch das Schicksal des Sohnes noch stärker geworden sei. Er antwortete trocken: „Eigentlich nicht. Aber wenn ich etwas zu sagen hätte, würde ich es verbieten, dass Ärzte für Erwachsene Kleinkinder behandeln dürfen.“

Statt des Stammhalters machte der eigenwillige Firmenpatriarch 2006 seine ältere Tochter Bettina zur Chefin – obwohl er in früheren Jahren auch schon mal erklärt hatte, dass Frauen sich um Küche und Kinder zu kümmern hätten und sich aus dem Geschäftsleben heraushalten sollten.
Der heute 50 Jahre alte Markus Würth war eher selten bei öffentlichen Auftritten der Familie zu sehen. Er lebte bisher unbehelligt im „Hofgut Sassen“, einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung im osthessischen Schlitz (Vogelsbergkreis).
Getragen wird das dortige Therapiezentrum vom Verein „Lebensgemeinschaft“. Etwa 250 Frauen und Männer wohnen, verteilt auf zehn „Großfamilien“ und Wohngemeinschaften, in zwei kleinen „Dörfern“. Nach Angaben der Einrichtung arbeiten die Menschen gemeinsam in Holz- und Keramikwerkstätten, einer Bäckerei und einer Gärtnerei. Zur Freizeitgestaltung gehören Orchester, Volkstanz, Malerei, Schwimmen und Gymnastik. Grundlage sind die Lehren der Waldorf-Pädagogik. Die Mutter von Markus, Carmen Würth, hat in der Nähe eigens ein Haus gebaut, um näher bei ihm zu sein.
In der Einrichtung fiel am Mittwoch auf, dass Markus Würth nicht zum Essen erschien. Er wurde als vermisst gemeldet, bestätigt die Staatsanwaltschaft Gießen. Wenig später soll nach bisher unbestätigten Angaben am Firmensitz eine Lösegeldforderung eingegangen sein. Ob es zwei oder drei Millionen Euro waren, darüber gab es unterschiedliche Angaben. Die Eltern Würth bekamen davon zunächst nichts mit. Nach Angaben des Südwest-Rundfunks (SWR) befanden sich Reinhold Würth und seine Ehefrau auf einer Geschäftsreise in Griechenland.
Reporter von „Bild“ hatten früh von der Entführung Kenntnis, hielten sich auf Bitte der Polizei aber mit Veröffentlichungen zurück, bis der Entführte in Sicherheit war. Am Morgen sorgte die Nachricht auf dem Online-Portal der Zeitung mächtig für Wirbel.
Warum die Entführer den Sohn des Schraubenkönigs ausgerechnet im Wald bei Kist fesselten und die Geodaten des Standortes mitteilten, damit er gefunden wird, ist bisher rätselhaft. Hinweise, dass sie einen Bezug zur Region haben, gebe es nicht, hieß es. Die zuständige Staatsanwaltschaft Gießen teilte ohne Namensnennung mit: „Zu einer Geldübergabe kam es indes nicht. Allerdings konnte das Tatopfer nach umfangreichen Ermittlungen der Kriminalpolizei und der Staatsanwaltschaft am heutigen Morgen in einem Waldgebiet bei Würzburg wohlbehalten aufgefunden werden.“
In Kist, der 2500-Seelen-Gemeinde, unweit von Würzburg, hat man am Donnerstagmorgen kaum etwas vom Polizeieinsatz mitbekommen. Bürgermeister Volker Faulhaber muss sich in der Mittagspause selbst erst einmal bei der Polizei kundig machen. „Wir haben im Rathaus früh zwei Hubschrauber gehört“, sagt er im Gespräch mit der Redaktion. Er habe aber gedacht, dass diese – „wie so oft“ – wegen eines schweren Unfalls auf der Autobahn im Einsatz sind. In Kist stößt die A 81 von Heilbronn kommend auf die A 3 von Frankfurt nach Nürnberg, die Trasse ist eine der meistbefahrenen in Deutschland.
„Nach und nach haben dann erste Meldungen über die Befreiungsaktion die Runde gemacht“, sagt Faulhaber. Die Kister hätten sich aber nicht aus der Ruhe bringen lassen. „Es war wohl dem Zufall und der guten Verkehrsanbindung geschuldet, dass das Entführungsopfer an einen Baum auf Kister Gemarkung gebunden wurde“, so der Bürgermeister. Zum Glück sei das Verbrechen für Würth relativ glimpflich geendet.
Kist ist stark von Wald umgeben. Der Guttenberger Forst ist ein beliebtes Naherholungsgebiet der Würzburger. Am Donnerstagmittag sind keine Spaziergänger unterwegs, erstmals seit Wochen hat es wieder geregnet. An der Spargelbude an der B 27, zwischen Kist und Würzburg, gegenüber der Abzweigung nach Eisingen, führt ein Forstweg direkt in den Buchenwald. Hier muss es gewesen sein. Frage an die Spargel-Verkäuferin: „Haben Sie etwas von einem Polizeieinsatz gesehen?“ „Ja, da war was“, sagt die Dame in gebrochenem Deutsch, „aber Genaues habe ich nicht mitbekommen.“ Als sie hört, dass es um eine Entführung ging, schüttelt sie mit dem Kopf. Nein, davon wisse sie nichts.
50 Meter weiter ein Mann mit Laptop und Kamera, erkennbar als Fotograf. „500 Meter in den Wald hinein, dann rechts den Schotterweg rein“, sagt er. Dort angekommen, deuten lediglich Reste von Polizeiabsperrband auf einen Einsatz hin. Reifenspuren hat der Regen größtenteils schon verwischt. Ein unwirklicher Ort, im dichten Buchenwald. Von der Zivilisation ist nichts zu sehen und zu hören. Markus Würth muss schreckliche Qualen ausgestanden haben.