Die zwölfjährige Michelle liegt in einem Gitterbett im Wohnzimmer. Sie ist mehrfach behindert, kann nicht sprechen und sich nur eingeschränkt bewegen. Gefühle äußern kann sie sehr wohl. So zeigen ihre Blicke und Reaktionen, ob sie glücklich ist oder nicht.
Und sehr glücklich sei sie im Sommer gewesen, als sie einen Rollstuhl testete, der dynamisch die Krampfbewegungen des Mädchens aufnimmt und abschwächt. "Sie fühlte sich sichtlich wohl", sagt die Mutter. "Sie wehrte sich, als sie wieder in den alten Rollstuhl sollte." Der passe nicht mehr. Michelle ist am Beginn der Pubertät, und damit verschlimmern sich die seitliche Verbiegung ihrer Wirbelsäule (Skoliose) und ihre Krämpfe (Tetraspastik). Die Mutter führt eine Filmsequenz vor, die zeigt, wie sich der Körper des Mädchens in der starren Sitzschale verschiebt und Michelle den Mund zu Schmerzensschreien öffnet.
Und so bemühte sich Szingsniß Ende Oktober, den dynamischen Stuhl Aktivline von Interco von der Krankenkasse bewilligt zu bekommen. Die Würzburger AOK lehnte ab. Szingsniß widersprach mit Hilfe eines Anwalts. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) besuchte Michelle. Nun hofft die Mutter auf den Bewilligungsbescheid. Immerhin befand die Orthopädische Klinik in Markgröningen, dass Michelles Spastiken sich im starren Rollstuhl verschlimmern, im dynamischen verbessern.
Warum sie den bisher nicht bekam, sagt Michael Kamm von der AOK: "Wir müssen auch an die Kosten denken." Der MDK sei der Meinung, dass die Anpassung der vorhandenen Sitzschale genügt. "Das hätte schon längst geschehen sollen", sagt Kamm und es klingt wie Kritik an der Mutter. Als Größenordnung für den Umbau nennt Kamm 2000 bis 3000 Euro. Der Kostenvoranschlag für das dynamische Sitzsystem: 16 670 Euro.
Zig Widersprüche und Klagen habe er schon gegen Kassen geführt, die Kosten für das dynamische Sitzsystem nicht übernehmen wollten, immer mit Erfolg, sagt Michelles Anwalt, Thomas Richard Schreitz aus Niederkassel. Das große Problem für die Betroffenen: Ein Verfahren kann Jahre dauern, wie Hans-Peter Martin, Geschäftsführer des VdK-Kreisverbands sagt. "Wir haben in dem Bereich zu wenig Richter."
Physiotherapeut Pasquale Incoronato vom Sozialpädiatrischen Zentrum der Berliner Charité entwickelte das Sitzsystem zusammen mit Michael Markwald. Die Idee hatte er 1996, angesichts einer 17-Jährigen mit Verletzungen vom starren Rollstuhl. "Ich hatte keine Lust, Gewalt auf die Patienten auszuüben", sagt Incoronato. Denn Menschen an Füßen, Becken und Brustkorb zu fesseln, damit sie nicht bei unkontrollierten Krampfbewegungen aus dem Sitz fallen, sei ein Gewaltakt.
Im dynamischen Stuhl fühlten sich die Kranken wohler. Bei einer Untersuchung berichteten die Befragten über längere Sitzzeit weniger Schmerzen, bessere Verdauung und Kopfkontrolle und mehr Beweglichkeit, sagt Incoronato.
Vorwürfe erhebt er gegen die Krankenkassen. Es sei auffällig, dass ein immer ähnlicher Kampf um die Finanzierung ablaufe.
Freilich, der dynamische Stuhl sei teuer. Er sei für die kleine Gruppe der Menschen mit Zerebralparese, zu denen Michelle gehört, ein Hilfsmittel, um ihnen etwas Lebensqualität zu ermöglichen, sagt Ute Markwald von der Interco-Geschäftsleitung. Doch werde mit der Spezialanfertigung auf lange Sicht gespart, sagt Incoronato. Der Stuhl halte länger, weil er den Druck des Körpers nicht aushalten muss. Die Patienten seien gesünder.
Doch für die Kassen stehe das Sparen im Vordergrund, sagt Vdk-Kreisgeschäftsführer Hans-Peter Martin. Besonders die AOK mit ihrer breit gefächerten Klientel lehne viele Anträge zunächst einmal ab. Martin kritisiert die "Gesundheitspolitik nach Kassenlage", weil es für die Allgemeinheit auf Dauer günstiger wäre, Folgeschäden zu vermeiden. Zwar mahnt er, die Situation realistisch zu sehen: "Nicht alles, was wünschenswert ist, ist finanzierbar." Doch lohne es sich immer zu kämpfen.
Und das will Sylvia Szingsniß. Denn sie weiß, dass es nur ein Traum ist, wenn sie sagt: "Am liebsten wäre mir, Michelle brauchte gar keinen Rollstuhl." Nun hofft sie, dass ihre Tochter ein bisschen Freiheit und ihr Lachen zurück bekommt.