Er hatte sich im Thüringer Wahlkampf für Ministerpräsident Bodo Ramelow stark gemacht, nach der Wahl für Gespräche mit der CDU plädiert. Nach der Schockwahl von FDP-Ministerpräsident Thomas Kemmerich mit Stimmen der AfD ringt selbst der wortgewandte Gregor Gysi, lange Fraktionsvorsitzender der Linken im Bundestag, nach Worten.
Frage: Herr Gysi, wie ist Ihr Puls?
Gregor Gysi: Das weiß ich nicht genau. Was ich aber weiß: Dass ich zutiefst entsetzt bin. Das ist ein Kulturbruch in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Allianz aus FDP, CDU und Höckes AfD war bislang nicht vorstellbar. Das hat sich geändert.
Warum ist das ein Kulturbruch, ein Tabubruch?
Gysi: Weil mich die allmähliche Akzeptanz und Hineinnahme von Höckes AfD in Regierungsbündnisse an 1924 erinnern, als völkische Gruppierungen in Thüringen das erste Mal den Ministerpräsidenten mitgewählt haben. Und es erinnert mich an 1930, als das erste Mal die NSDAP in eine Landesregierung eintrat – auch in Thüringen. Und das wiederholt sich 90 bzw. 96 Jahre später.
Wem machen Sie den Hauptvorwurf?
Gysi: Sowohl der FDP als auch der CDU. Ich nehme da keinen aus. Das war alles abgesprochen. Das mit einem Typen wie Höcke zu tun, ist für mich völlig inakzeptabel.
Sie gehen von einem abgekarteten Spiel aus?
Gysi: Das war es ganz bestimmt. In der AfD hat niemand den eigenen Kandidaten gewählt, FDP und CDU verhalten sich bei der Wahl gleich. Der Mann von der FDP war auch nicht überrascht, dass er Ministerpräsident wurde… Ich bin auch persönlich vom Verhalten von Mike Mohring und Thomas Kemmerich zutiefst enttäuscht. Ich hätte das Mohring nicht zugetraut, aber er hat es gemacht und mich eines Schlechteren belehrt.
Sie hatten sich ja im Herbst noch für Koalitionsgespräche zwischen Linken und CDU ausgesprochen…
Gysi: Auf jeden Fall für Gespräche. Ich hatte es für eine Option gehalten.
Was bedeutet dieser Vorgang für die Bundespolitik?
Gysi: Wenn die SPD ihre Geschichte nicht aufgeben und sich selbst nicht verraten will – muss sie jetzt unverzüglich die Große Koalition aufkündigen. SPD, Grüne und Linke müssen begreifen: Ein Zusammengehen mit Union und FDP ist zurzeit nicht mehr möglich. Der Tabubruch in Thüringen ist zu groß. Also müssen sie jetzt für ein Mitte-Links-Bündnis streiten und versuchen, eine Mehrheit dafür im Bund zu erreichen.
Sie fordern Neuwahlen im Bund und in Thüringen?
Gysi: Ja, beides. Bodo Ramelow und die Linke dürfen jetzt nicht aufgeben. Ich sage Ihnen: Bei Neuwahlen hält diese komische Koalition in Thüringen nicht, weil CDU und FDP dann verlieren werden. Ich war lange genug in Thüringen. Nach einer Umfrage wollten 40 Prozent der CDU-Wähler eine direkte und weitere 40 Prozent eine lockere, projektbezogene Koalition von Linken und CDU, nur 20 Prozent waren dagegen.
Sind Neuwahlen in Thüringen der einzige Ausweg? Oder ist eine schwarz-gelbe Minderheitsregierung denkbar?
Gysi: Diese Minderheit bestünde aus 26 von 90 Abgeordneten… Ohne die AfD brächten sie keinen Haushalt, kein Gesetz durch. So bekämen wir faktisch ein Bündnis. Glauben Sie nicht, dass Höcke seinen Preis verlangt? Glauben Sie, der wählt den Ministerpräsidenten und verzichtet darauf, indirekt an der Regierung beteiligt zu sein? Wahrscheinlich wird der Kompromiss sein, dass er einen Parteilosen benennt, der Minister wird – oder so ähnlich. Wenn FDP und CDU A sagen, kommen sie um B und C nicht herum.
Das heißt, auch eine Regierung ohne formale Beteiligung der AfD wäre von ihr abhängig…
Gysi: Selbstverständlich.
Was bedeutet der Vorgang für die Demokratie, wenn die kleinste Fraktion den Ministerpräsidenten stellt?
Gysi: Es ist eine Verhöhnung der Wählerinnen und Wähler. Es gab im Vorfeld eine Umfrage: Drei Viertel der thüringischen Bevölkerung wollten Bodo Ramelow als Ministerpräsidenten bestätigt sehen. Dass hier CDU, FDP und AfD einen Strich durch die Rechnung gemacht haben, beweist den Leuten doch, wie fragil aus ihrer Sicht die Demokratie ist. Und das stärkt die AfD. Diese Partei stellt sich doch in Wirklichkeit gegen die Demokratie. Das darf man nicht unterschätzen. Der Frust über die Demokratie wird zunehmen. Ich möchte aber, dass sie gestärkt wird. Das sind abscheuliche Spielereien, die im Thüringer Landtag stattgefunden haben.
Sie meinen damit auch das Wahlverhalten einer AfD, die einen eigenen Kandidaten stellt, aber diesen nicht wählt?
Gysi: Daran merken Sie doch das abgekartete Spiel gemeinsam mit CDU und FDP.
Was bedeutet diese Wahl speziell für Ostdeutschland?
Gysi: Thüringen war das ostdeutscheste der neuen Bundesländer. Und das geht jetzt verloren. CDU und FDP werden – noch dazu unterstützt von der AfD – eine andere Politik machen als früher die CDU unter einem Bernhard Vogel oder auch danach. Bodo Ramelow war gerade dabei, in Thüringen die Wirtschaft zu stärken und zugleich die soziale Sicherheit wieder zu erhöhen. Ich glaube, dass dies alles jetzt in Gefahr gerät.
Wirft der Vorgang auch ein weiteres negatives Schlaglicht auf Ostdeutschland, was die Demokratiefähigkeit angeht?
Gysi: Vielleicht. Auch das hätten sich die Herren Kemmerich und Mohring überlegen müssen. Haben sie aber nicht und sind diese unsägliche Allianz eingegangen.