Icon Menü
Icon Schließen schliessen
Startseite
Icon Pfeil nach unten
Würzburg
Icon Pfeil nach unten
Ochsenfurt
Icon Pfeil nach unten

GAUKÖNIGSHOFEN: Hungerwinter 1946/47: Letzte Habe gegen Essbares getauscht

GAUKÖNIGSHOFEN

Hungerwinter 1946/47: Letzte Habe gegen Essbares getauscht

    • |
    • |

    Das Interesse an der Zeit unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs erwacht gerade in jüngster Zeit wieder. Viele Berichte in der Main-Post befassten sich in den vergangenen Monaten mit dem Thema, Bücher erschienen dazu. Der 84-jährige Reinhold Rady aus Hösbach hat kürzlich einen Fernsehbericht über den Hungerwinter 1946/47 gesehen und sich dabei seiner eigenen Erlebnisse erinnert – damals als Hamsterer im Ochsenfurter Gau. Sein handgeschriebener Bericht, den er der Redaktion zuschickte, ist ein eindruckvolles Zeugnis vom täglichen Überlebenskampf der Menschen:

    Es war im Winter 1946 auf 1947. Wir hatten zwar den Krieg überstanden, aber die Not war groß. Zumal der Sommer sehr heiß war und wir auf unserem Acker von 540 Quadratmetern, für den wir 100 Kilogramm Saatgut brauchten, nur 350 Kilogramm Zwergkartöffelchen ernteten.

    Wir waren zwar nicht verhungert, wie es heute noch in Afrika alltäglich passiert, aber die Rationen, die es von Lebensmittelkarten gab, reichten bei weitem nicht aus, um uns, meine junge Frau und meine verwitwete Mutter zu ernähren.

    Zum großen Glück war ich kein Raucher und für die drei Raucherkarten tauschen wir so manches Stück Brot ein, das den größten Hunger stillte.

    Es näherte sich die Weihnachtszeit. Wir hatten im Spätherbst eine Brennholzzuteilung erhalten. Es waren so genannte Schwarten, Reststücke von zersägten Baumstämmen aus dem Sägewerk Vorgang in Hösbach-Bahnhof.

    Beim Anblick dieser Schwarten kam mir eine zündende Idee: Das gäbe schöne Kinderroller und die könnte man zur Weihnachtszeit gegen allerlei andere Wertgegenstände und Lebensmittel eintauschen. Denn zu kaufen gab es ja nichts.

    Bei Minusgraden im Freien

    Gedacht, getan – ich machte mich sofort ans Werk. Den Schreiner in unserer Straße bat ich, mir wenigstens die Längsschnitte mit der Kreissäge zu machen. Alles andere machte ich mit der Hand. Die ganzen Beschläge machte ich selbst. Mein Chef in der Firma erlaubte mir nach Feierabend die Räder, die ich brauchte, zu drehen. So stand ich jeden Abend, oft bei Minusgraden im Freien zwischen Holzhalle und Haus am Schraubstock und baute mit primitivsten, meist geliehenen Werkzeugen zehn Roller zusammen.

    Einen tauschte ich für Leder ein, den zweiten musste ich dem Schuster geben, der für meine junge Frau ein paar Stiefel machte, die ich ihr zu Weihnachten schenkte. Den dritten gab ich für ein elektrisches Bügeleisen, und so weiter. Zuletzt hatte ich noch vier Stück.

    Mit diesen vier Rollern fuhr ich ins „gelobte Land“, so nannte man damals den Ochsenfurter Gau, wo viele Bauernhöfe waren und die Leute sogar aus Frankfurt kamen, um ihre letzten Habseligkeiten gegen etwas Essbares einzutauschen. So landete ich in Gaukönigshofen und begann mit etwas Herzklopfen, meine Roller an den Mann oder die Frau zu bringen.

    Im ersten Hof waren keine Kinder, also nichts zu machen. Aber im zweiten hatte ich gleich Glück, aber 25 Pfund Weizen waren ihnen zu viel. Sie boten mir 20 Pfund und ich willigte ein.

    Dann kam ein Großbauer, der bot mir drei Pfund Mehl und zehn Reichsmark. Das fand ich unverschämt, vor allem, wenn ich an meine kalten Hände und Füße dachte, die ich mir bei der Arbeit geholt hatte. Ich lehnte dankend ab und ging weiter von Haus zu Haus und dachte mir, es wird schon noch Abnehmer geben für meine Roller.

    So ging ich durch ganz Gaukönigshofen, konnte aber kein Tauschgeschäft mehr machen und wollte schon enttäuscht zurück zum Bahnhof gehen. Aber da waren noch zwei Bauernhöfe, 100 Meter oder sogar weiter nach dem Dorfende. Ich dachte, jetzt bis du durch das ganze Dorf gegangen, jetzt gehst du da auch noch hin.

    Am Hof angekommen bellte mich gleich ein Hund an und meldete mich. Es dauerte eine oder zwei Minuten, da erschien eine für mich damals alte Frau von vielleicht 50 oder 55 Jahren auf der Treppe und fragte mich nach meinem Anliegen. Ich zeigte ihr meine Kinderroller und trug meinen Tauschwunsch vor. Darauf sagte sie: „Lieber Mann, sie schickt der Himmel. Mein Sohn und seine Frau suchen schon seit Wochen ein Geschenk für meinen Enkel, aber . . .“ Ich erschrak nach dem „aber“ und dachte, was kommt jetzt für eine Einschränkung. Doch meine Angst war grundlos.

    Im Gegenteil, sie sagte nur, ihr Sohn sei noch auf dem Feld und das Tauschgeschäft könnten nur die jungen Leute machen, und bat herein in die Wohnstube. So nebenbei sagte sie zu mir: „Sie haben doch sicher Hunger, ich backe ihnen ein paar Eier mit Speck“, und legte mir einen Laib Bauernbrot auf den Tisch mit einem großen Messer.

    Wie Weihnachten

    Mir war wie Weihnachten. Als ich die Schinkeneier gegessen hatte und mir nochmals ein Stück Brot abschnitt, legt mir die gute Frau auch noch den Schinken auf den Tisch und sagt: „Greifen sie nur zu.“

    Nach einer halben Stunde kam der Jungbauer vom Acker zurück. Er musterte mich kurz und seine Mutter erklärte ihm mein Anliegen. Er sagt sofort zu, mit dem Einwand, der Weizen wäre mit Raps verunreinigt. Der Raps ergab später einen Liter Rapsöl.

    Nachdem ich den Weizen im Rucksack verstaut hatte, sagte die ältere Frau zu mir: „So, jetzt gehen sie da rüber, so etwa 100 Meter, da wohnt meine Tochter, die hat einen gleichaltrigen Buben“ – oder ein Mädchen, so genau weiß ich das heute nicht mehr. „Sagen sie einen Gruß von mir und sie soll ihnen auch einen Roller abnehmen“ – sonst gäbe es Reibereien zwischen den beiden Kindern.

    Die Tochter nahm mir den dritten Roller gegen 25 Pfund Weizen ab. Jetzt schleppte ich hoch zufrieden meinen Rucksack Richtung Bahnhof. Unterwegs kam ich in Versuchung und wollte meinen vierten und letzten Roller doch noch für drei Pfund Mehl und zehn Reichsmark, wie man so schön sagt, verscherbeln. Ich hatte schon die Haustürglocke in der Hans, aber dann bekam ich eine Wut auf den Geizhals und ging doch weiter. Ich dachte mir, irgendwie kriegst du den letzten Roller doch noch gegen etwas vom gleichen Wert an den Mann.

    Nicht Tauschbares

    Am Bahnhof bestieg ich den Zug nach Ochsenfurt. In Ochsenfurt, oder war es erst in Würzburg, wurde der Zug in Richtung Frankfurt brechend voll. Ich bekam noch einen Sitzplatz. Gegenüber saß eine junge abgemagerte Frau mit zwei Buben im Alter von zirka fünf bis sieben Jahren. Die beiden sahen den Roller und tuschelten ständig mit ihrer Mutter. Die schüttelte nur den Kopf, doch dann sprach sie mich mit folgenden Worten doch an: „Eigentlich brauch ich sie ja gar nicht zu fragen, denn sie wollen den Roller doch auch gegen etwas Essbares eintauschen; aber die Buben lassen mir keine Ruhe.“ Die Buben taten mir leid und ich fragte zurück, ob sie gar nichts Tauschbares hätte. Sie verneinte und sagte, nur etwas Geld hätte sie noch.

    Ich überlegte kurz, fragte, ob sie bereit wäre, meine Fahrkarte zu bezahlen. Denn obwohl das Geld damals nicht viel wert war, ich hatte auch nicht viel Geld.

    Sie war vollkommen überrascht über mein Angebot und willigte sofort ein. So wechselte mein letzter Roller den Besitzer. Die Mutter, aber vor allem die beiden Buben waren überglücklich. Beim Aussteigen in Hösbach sprang mir der ältere Bub an den Hals und bedankte sich nochmals. Ich war jetzt froh darüber, dass in den armen Buben und nicht dem Geizhals aus Gaukönigshofen eine Freude gemacht hatte. Jetzt hoffte ich nur noch, dass ich meine wertvolle Fracht sicher nach Hause bringen konnte. Denn die Polizei nahm den so genannten Hamsterern ihre überlebenswichtige Ware manchmal auch noch ab. Doch auch die Polizei drückte damals viele Augen zu.

    Jetzt bin ich 84 Jahre alt geworden und denke jedes Jahr um die Weihnachtszeit an die Fahrt in gelobte Land.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden