Nicht nur orientalische Märchen aus 1001 Nacht gehören zu Rafaels Repertoire. Traditionelle Märchen aller Länder, Zeiten und Kulturen erzählt der 41-Jährige, immer wieder gerne auch die Märchen der Brüder Grimm, die ihren eigenen, unnachahmlichen Ton haben.
"Im Erzählen steckt Magie", erklärt Ulrich Lorey, wie er im wirklichen Leben heißt. Seine Fertigkeiten erwarb er in einer zwei Jahre währenden Ausbildung, "an sieben mal sieben Tagen", wie sich das gehört, im Troubadour-Märchen-Zentrum bei Bielefeld. Richtig entfalten kann sich die Magie des Erzählens aber erst, wenn sie intuitiv erfasst wird, wenn, anders ausgedrückt, der Kopf aufhört mitzudenken. Womöglich über die Handlung nachzudenken, meint der ehemalige Informatiker, "wäre einfach gegen die Spielregeln". Musik, je nach thematischer Ausrichtung orientalische Klänge oder schlichte Flötenmelodien, hilft dabei, die Aufmerksamkeit der Zuhörer einzufangen und zu zentrieren.
Dann beginnt Rafael, der Märchenerzähler, die Bilder zu beschreiben, die vor seinem inneren Auge entstehen und ineinander fließen, mit freundlicher, ärgerlicher, bewegter, immer gefühlvoller Stimme. Anders als vielleicht ein Vorleser es tun würde versteht er sich nicht als Interpret, sondern als Vermittler der Bilder, die zu einer Handlung verknüpft sind.
Viele Variationen kann er sich, gerade bei Grimmschen Klassikern wie dem "Froschkönig" oder "Schneewittchen" nicht erlauben. Dann beschweren sich nämlich lauthals die jüngeren Zuhörer und korrigieren ihn. "Die Kinder kennen ihre Märchen einfach auswendig", was Lorey als gutes Zeichen wertet. Dass aber trotz (oder gerade wegen?) der festen Redewendungen und Strukturen mit großem Wiedererkennungseffekt viele Märchen doch in jedem Zuhörer andere Bilder wachruft und etwas sehr Offenes und Freies entsteht, findet er am Erzählen so faszinierend: "Für den einen ist ein Schlüssel klein und zierlich, für den anderen groß und dick, es ist nie der gleiche, obwohl alle das gleiche gehört haben."
Davon, selbst Märchen zu verfassen, hält er nichts, dafür sei der Schatz an schönen, interessanten Märchen groß genug. Rund 120 hat er im Repertoire, europäische, chinesische und afrikanische sind darunter, auch erotische und mythologische, Märchen der Inuit. Die größte Herausforderung sind für ihn die Märchen der Aborigines. In ihnen werden Einzelereignisse aneinander gereiht, aber weisen keinen Spannungsbogen auf. Um die Zuhörer da "bei der Stange zu halten", wie Lorey sagt, muss er all seine Ausdruckskunst anwenden. Wenn er aber dann die Augen der Zuhörer leuchten sieht und wahrnimmt, "dass etwas mit ihnen geschieht", das ist auch für ihn die größte Freude.
Gerne würde Lorey seine 40- bis 45-minütige Märchenstunden öfter anbieten, und auch Märchentheater für Kinder, die sich als Fee und König verkleiden und das erzählte Märchen nachspielen, während er es ein zweites Mal erzählt. Auch für eine Gruselnacht an Halloween ist Lorey noch auf der Suche nach einem Veranstaltungsraum. Das Problem ist nicht, einen Raum mit passend düsterer Atmosphäre zu finden, sondern einen Raum, der barrierefrei, also ohne große Probleme mit dem Rollstuhl befahrbar ist. Lorey sitzt seit vielen Jahren im Rollstuhl und engagiert sich im WüSL, dem Verein selbstbestimmt Leben e.V., der sich gegen Bevormundung und Barrieren im Leben von Behinderten einsetzt.
Wer nicht bis Halloween warten will: Dieser Tage erscheint eine CD mit einem Potpourri aus orientalischen Märchen und Musik von Rafael und Sheyk: "Kelims Geschichten. Ein klingender Märchenteppich mit Knoten aus aller Welt". Der Kelim ist auch ein Teppich, auf dem man in orientalische Länder fliegen und die fantastischsten Abenteuer erleben kann.