Die Zahl der Obdachlosen in Deutschland ist deutlich gestiegen. Rund 52 000 Menschen lebten der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe zufolge im Jahr 2016 auf der Straße; zwei Jahre zuvor waren es noch 39 000 Betroffene. „Die Zahl steigt stetig – auch bei uns“, sagt Romi Forster-Bundschuh von der Würzburger Bahnhofsmission. Diese Einrichtung ist als eine von wenigen Bahnhofsmissionen in Deutschland 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr geöffnet und damit für viele Bedürftige ein wichtiger Anlaufpunkt: Es ist warm. Es gibt Brezeln, Brötchen und heißen Tee. Außerdem Duschen; in manchen Fällen auch ein Bett. Und jemanden, der zuhört. Pro Tag nutzen 100 bis 120 Menschen allein in Würzburg dieses Angebot.
Sorge um psychisch Beeinträchtigte
An einem ganz normalen Werktag hat früh am Morgen ein jüngerer Mann den Weg in das bescheidene, weiß getünchte Gebäude der Würzburger Mission zwischen Bahnhof und Posthalle gefunden; er hat sich, ohne die Jacke auszuziehen, allein an einen Tisch gesetzt; und da verharrt er; blicklos, reglos. Am Tisch nebenan faltet eine Frau ein Stück Papier, entfaltet es, faltet es wieder und redet dabei laut mit sich selbst.
Eine junge Frau fragt bei Romi Forster-Bundschuh nach Hygieneartikeln; verschwindet damit ins Bad. Erkennbar kommt sie nicht zurecht, wird hektisch, geht es ihr dort schlecht – Romi Forster-Bundschuh erwägt, einen Arzt zu holen. Sie kennt die Frau seit Jahren als jemanden, der dringend psychologische oder psychiatrische Betreuung bräuchte.
Allein mit sich und dem Verfolgungswahn
„Psychisch beeinträchtigte Menschen machen einen großen und wachsenden Teil unserer Besucher aus“, sagt Forster-Bundschuh, eine Theologin, die seit neun Jahren im Tagteam der Bahnhofsmission arbeitet. Sie schätzt, dass der jungen, psychisch auffälligen Frau wohl durchaus Behandlungsmöglichkeiten in Würzburg offen stünden, sie weiß aber aus Erfahrung, dass die Frau diesen Weg ablehnen wird. Forster-Bundschuh erzählt auch von einer älteren Klientin, die seit vielen Jahren auf der Straße lebt, allein mit sich und ihrem Verfolgungswahn. „Wir bräuchten in der Region eine längerfristige Betreuungsmöglichkeit für psychisch belastete Menschen – eine Einrichtung, die sie beschützt“, meint Forster-Bundschuh.
Laut dem Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, Thomas Specht, wirkt sich „die Zuwanderung verstärkend“ auf die Obdachlosenzahlen aus. Aber „die wesentlichsten Ursachen für Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit liegen in einer seit Jahrzehnten verfehlten Wohnungspolitik in Deutschland, in Verbindung mit der unzureichenden Armutsbekämpfung“, so Specht.
Hart umkämpfter Wohnungsmarkt
Der extrem angespannte Wohnungsmarkt wird auch von den Mitarbeitern der Würzburger Bahnhofsmission als ein weiterer Grund für die zunehmende Zahl von Wohnungslosen gesehen. Alles lässt sich mit Politik aber nicht erklären: „Wir haben hier Spätaussiedler. Wir haben junge Leute, manchmal fast Kinder, die sagen, sie seien allein zu Hause, hätten Hunger und Eltern, die sich nicht kümmern“, heißt es.
Und dann gibt es bei der Bahnhofsmission noch die „Stammgäste“. In Würzburg genauso wie in Schweinfurt. „Der tägliche Besuch bei uns gibt den Obdachlosen ein Stück weit Struktur“, sagt Ingeborg Fuchs, Leiterin der Schweinfurter Bahnhofsmission, die mit 20 bis 25 Besuchern am Tag deutlich weniger frequentiert wird als die Würzburger Einrichtung und auch – gegen den bundesweiten Trend – keine zunehmenden Besucherzahlen registriert.
Stammgäste suchen Struktur für den Tag
In der „staden Zeit“ zwischen Weihnachten und Neujahr rechnet Fuchs nicht mit weniger Gästen als sonst; Romi Forster-Bundschuh tut das auch nicht. Wird gefeiert, wenigstens ein bisschen? „Eher nicht“, sagt die Theologin.
Zwar gebe es immer Gutes zu essen, weil erfreulicherweise etliche Passanten um die Weihnachtszeit herum vorbeikämen und Stollen oder Plätzchen spendeten. Weihnachtliche Lieder, weihnachtliche Deko mögen die obdachlosen Menschen nach Erfahrung der Theologin aber nicht. „Das tut dann doch zu weh.“