Im XXL-Format prangen die beiden Buchstaben „EU“ auf einer abgelegenen Wiese in Oberwestern im Landkreis Aschaffenburg. Umrahmt von fünf Fahnen, einer Sitzbank und Informationstafeln. Ein gewisser Stolz ist dem Ensemble anzumerken: Die kleine Gemeinde Westerngrund ist seit dem EU-Beitritt Kroatiens 2013 offiziell der Mittelpunkt der Europäischen Union. Nur wenig später, am 1. Januar 2014, bekam Westerngrund den EU-Mittelpunkt sogar ein zweites Mal. Die Inselgruppe Mayotte im Indischen Ozean wurde französisches Gebiet.
Der Mittelpunkt zieht um
Mit dem bevorstehenden EU-Austritt der Briten wird Westerngrund den Mittelpunkt jedoch voraussichtlich verlieren. Er rutscht viele Kilometer nach Südosten, in Richtung Würzburg. Oder sogar genau nach Würzburg. So hat es der in Würzburg lebende Gymnasiallehrer Julius Weber mit seiner 8. Klasse vom Reichsstadt-Gymnasium in Rothenburg ob der Tauber berechnet. Wenn auch zunächst nur unsauber.
Die Berechnungen seiner Klasse hat er mittlerweile immer weiter verfeinert und so den neuen Mittelpunkt der EU relativ genau lokalisiert. Zumindest so gut es für ihn möglich war: „Die größte Unsicherheit in meiner Berechnung bleibt die Fläche der Gesamt-EU, die ich nur auf zwei Stellen genau kenne“, schreibt Weber auf Nachfrage der Redaktion. „Deshalb erwarte ich noch in West-Ost-Richtung einen Fehler von ein bis zwei Kilometern.“
Aber wo liegt er denn nun, der neue Mittelpunkt nach dem Brexit?
Zunächst hatte Weber einen Punkt am Nordostrand von Rimpar errechnet. Zur Berechnung benötigt er den Mittelpunkt Großbritanniens, dessen genaue Koordinaten ihm jedoch fehlten: „Ich habe als ungefähren Mittelpunkt den runden Wert 54 Grad Nord und 3 Grad West gewählt“, schreibt er. Zudem hat er die Erdkrümmung noch außen vor gelassen.
Rimpar, Hubland, Heidingsfeld?
Einige Zeit später habe er im Internet die Koordinaten eines touristisch markierten „Mittelpunkts von Großbritannien“ gefunden. Mit den neuen Zahlen landete er am Würzburger Uni-Stadtteil Hubland. Weber rechnete die Erdkrümmung hinzu und konnte sein Ziel vorsichtig eingrenzen: „So nehme ich an, dass der künftige EU-Mittelpunkt irgendwo zwischen der Autobahnauffahrt Randersacker und Höchberg liegt.“ Etwas mutiger nennt er sogar seine genauere Vermutung: „Vielleicht im Bereich der Autobahnbaustelle, der Heidingsfelder Eisenbahnstraße oder am Westbahnhof.“
Dass er den richtigen Rechenweg kennt, hat er schon beim Beitritt Kroatiens bewiesen. Damals lag er nur knapp einen Kilometer daneben.
Offiziell wird der Mittelpunkt der EU in Paris berechnet, von Ingenieuren am Institut national de l'information géographique et forestiere – kurz: IGN. Zur Berechnung wird angenommen, dass die EU-Staaten – mitsamt aller Inseln – eine ebene, zusammenhängende Fläche bilden. Diese Fläche wird an einer Schnur aufgehängt. Der Mittelpunkt ist dort, wo die Schnur die Fläche im Gleichgewicht hält. Eine Anfrage der Redaktion beim IGN verlief bisher leider ohne Ergebnis.
Auch Journalisten der Süddeutschen Zeitung haben vom IGN lediglich erfahren, dass nichts zum neuen EU-Mittelpunkt veröffentlicht wird, solange Großbritannien nicht den Antrag auf Austritt aus der EU gestellt hat. Ob Julius Webers Berechnungen in die richtige Richtung gehen, lässt sich also bisher nicht offiziell nachweisen. Sicher ist nur: Wenn die Briten austreten, hat Westerngrund den Mittelpunkt los. Aber wie geht man in Westerngrund damit um?
Zunächst einmal abwarten und – ganz in britischer Manier – Tee trinken. So sieht es zumindest Dieter Schornick, der erste Sprecher der Interessengemeinschaft EU-Mittelpunkt in Westerngrund: „Für mich ist der Brexit noch lange keine beschlossene Angelegenheit“, sagt Schornick. Selbst wenn die Austrittsverhandlungen im Frühjahr 2017 beginnen, werde der Prozess noch zwei Jahre dauern. Und ob es überhaupt dazu kommt, da hat Schornick seine Zweifel. „Damit wird der Mittelpunkt der EU noch bis etwa Mitte 2019 in Westerngrund bleiben.“
Ein Verfechter Europas bringt Westerngrunder Erde nach Brüssel
Dieter Schornick ist ein Europäer, wie ihn ein EU-Mittelpunkt braucht. Er ist Vorsitzender der Europa-Union Aschaffenburg. Am EU-Mittelpunkt bietet er Führungen zur „Geschichte, Organisation und Arbeitsweise der EU“ an. Mit Reisen zum Europaparlament bringt er den Westergrundern die EU näher, die für viele so weit weg scheint. Im vergangenen Jahr hat er dem damaligen Leiter der Bayerischen Vertretung in Brüssel einen Sack Westerngründer Erde überreicht. Im kommenden März wird er dort wieder sein und den EU-Mittelpunkt näher vorstellen.
Der Brexit tut seinem Engagement keinen Abbruch. Und das soll auch so bleiben, egal wohin der Mittelpunkt verschwindet.
Die Symbolkraft des Mittelpunkts
Bei der letzten großen Mittelpunkts-Verschiebung hat der Spessartbund einen 13 Kilometer langen EU-Mittelpunkte-Weg vom hessischen Gelnhausen-Meerholz, wo der Mittelpunkt vorher lag, nach Westerngrund angelegt. Mit Informationstafeln zu Mitgliedsstaaten und zur Arbeitsweise der EU. „Der Spessartbund würde dann den EU-Mittelpunkte-Weg einfach um eine weitere Etappe verlängern“, sagt Schornick ganz pragmatisch.
Nach Schornicks „vertraulichen Informationen“ liegt der neue Mittelpunkt auch nicht direkt in Würzburg, sondern nur „in Richtung Würzburg“. Aber ganz egal wo, an dem neuen Punkt sollte auf jeden Fall eine ähnliche Informationsstätte entstehen wie in Westerngrund, findet Schornick. „Wir haben alleine bis Ende September 2015 fünf volle Gästebücher, die wir am Mittelpunkt ausgelegt hatten, von Schülern des Hanns-Seidel-Gymnasiums in Hösbach auswerten lassen.“ Das Ergebnis: 1925 Einträge mit 5617 erwähnten Personen aus 39 Ländern. „Die Besucher waren fast alle von dem Platz begeistert und unterstrichen die Symbolkraft eines solchen Ortes“, sagt Schornick.
Die Stadt Würzburg jedenfalls sieht noch keine Veranlassung, sich über einen eventuellen EU-Mittelpunkt zu sorgen und wollte sich gegenüber der Redaktion auch nicht zu Julius Webers Ergebnissen äußern.