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Würzburg: Jüdische Kinder aus Unterfranken in Nazi-Deutschland: Die gnadenlose Alternative zwischen Flucht und Deportation

Würzburg

Jüdische Kinder aus Unterfranken in Nazi-Deutschland: Die gnadenlose Alternative zwischen Flucht und Deportation

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    Ludwig, Gert und Therese Gutmann in Schwanfeld, ca. 1937. 
    Ludwig, Gert und Therese Gutmann in Schwanfeld, ca. 1937.  Foto: Michael Baumann

    Die Gedenkveranstaltung der Unicef-Hochschulgruppe am Würzburger DenkOrt Deportationen hat es im Januar 2024 wieder einmal deutlich gemacht: Zu den aus Unterfranken deportierten jüdischen Menschen gehörten 294 Kinder und Jugendliche im Alter von 0 bis 20 Jahren. Erst mit 21 Jahren wurde man zu der Zeit volljährig. Doch damit nicht genug, weitere mehr als 100 Minderjährige, die 1933 in Unterfranken gelebt hatten oder dort danach auf die Welt kamen, wurden von auswärts deportiert und dann ermordet.

    So wie Ruth Hanover (1923-1943), die Kindheitsfreundin des israelischen Lyrikers Jehuda Amichai. Sie musste ihre letzten Lebensjahre allein in den Niederlanden verbringen und wurde von dort nach Sobibor deportiert. Die, die in Unterfranken blieben, wurden zwischen November 1941 und Juni 1943 in den von Deutschland besetzten Osten Europas verschleppt und dort sofort oder wenig später ermordet. Von den 294 Kindern und Jugendlichen überlebten gerade einmal elf.

    Erschossenen am offenen Massengrab

    Gert Samuel Gutmann (1932-1942) wohnte mit seiner Mutter Therese und seinem Vater Ludwig Gutmann in Schwanfeld. Dort führte sein Vater ein erfolgreiches Viehhandelsgeschäft. Im Novemberpogrom 1938 wurde im Haus der Familie alles kurz und klein geschlagen. Daraufhin floh die Familie nach Würzburg. Der sechsjährige Gert ging dort in die Jüdische Volksschule.

    Am 27. November 1941 wurde er mit seinen Eltern nach Riga-Jungfernhof deportiert, einem Lager in einem heruntergekommenen Gutshof im besetzten Lettland. Schon nach wenigen Tagen musste sein Vater die Familie zurücklassen und Zwangsarbeit im Lager Salaspils leisten. Gert und seine Mutter überstanden zwar Hunger, Krankheiten und den extrem kalten Winter. Doch am 26. März 1942 wurde der Jungfernhof weitgehend geräumt und die meisten Bewohner in den nahen Wald von Bikernieki gefahren. Sie wurden dort an offenen Massengräbern erschossen – auch der zehnjährige Gert und seine Mutter. Sein Vater Ludwig (1902-1984) überlebte nach seiner Flucht auch die Internierung in sowjetischen Lagern. Erst 1956 kehrte er nach Deutschland zurück und lebte mit seiner neuen Familie wieder als Viehhändler in Schwanfeld.

    Nathan Weinberg, um 1940.
    Nathan Weinberg, um 1940. Foto: Yad Vashem

    Nathan Weinberg (1935-1941/42) wohnte als einziges Kind von Harry und Fanny Weinberg in Gemünden und seit November 1936 in Thüngen (Lkr. Main-Spessart), wo sein Vater Lehrer war. Als er geboren wurde, war sein Onkel Arthur Kahn (1911-1933) bereits seit zwei Jahren tot. Er gehörte zu den ersten Opfern im KZ Dachau.

    Nach massiven antisemitischen Ausschreitungen zog die Familie Weinberg im April 1938 von Thüngen nach Frankfurt (Main). Dort erlebte sie den Novemberpogrom, Nathans Vater kam ins KZ Dachau. Unter dem Druck der Gestapo emigrierte er im Frühjahr 1939 allein nach England. Es gelang ihm nicht, seine Familie nachzuholen. So wurde der sechsjährige Nathan im November 1941 mit seiner Mutter von Frankfurt nach Minsk deportiert und dort wohl spätestens im Folgejahr ermordet.

    Zu den jüngsten Deportierten gehörte der kleine Sally Heippert (1942-1943). Seine ledige Mutter Käte (1920-1943) stammte aus Wiesenbronn (Lkr. Kitzingen) und arbeitete als Hausmädchen in Würzburg. Die letzten Monate ihrer Schwangerschaft konnte sie im Heim des jüdischen Frauenbunds in Neu-Isenburg verbringen, bevor ihr Sohn im Januar 1942 in Frankfurt auf die Welt kam. Nach kurzer Zeit mussten beide nach Würzburg zurückkehren, weil die NS-Behörden das Heim schlossen. Bis zu ihrer Deportation im Juni 1943 lebten sie im Haus auf dem Jüdischen Friedhof. Ihr Leben endete in Auschwitz.

    Im KZ überlebt dank der Solidarität der Häftlinge 

    Kinder hatten, da sie nicht als Arbeitskräfte missbraucht werden konnten, keine Chancen, im Lagersystem zu überleben. Für Jugendliche sah das an wenigen Orten geringfügig besser aus. Zu ihnen gehörte Max Mordechai Ansbacher (1927-2021). Mit einem Kindertransport war er im Januar 1939 nach Belgien gekommen und erlebte dort 1940 ein ähnliches Schicksal wie Norbert Schmideck. Er wurde dann allerdings nach Deutschland zurückgeschickt, besuchte in München die Schule und leistete Hilfsarbeiten für die Jüdische Gemeinde. Ende 1941, als sein Vater im Sterben lag, kehrte er nach Würzburg zurück.

    Max Mordechai Ansbacher beim Gepäcktransport im Platz’schen Garten, April 1942, vor der 3. Deportation.
    Max Mordechai Ansbacher beim Gepäcktransport im Platz’schen Garten, April 1942, vor der 3. Deportation. Foto: Staatsarchiv Würzburg

    Auch hier wurde er von der Jüdischen Gemeinde u.a. mit einem weiteren Jugendlichen und mehreren alten Männern für Transportdienste bei der Abfertigung der Deportation im April 1942 eingeteilt. Bei seiner Vernehmung im Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem hat Ansbacher davon berichtet und ist – anders als vielfach beschriftet – mit hoher Wahrscheinlichkeit der Junge auf dem hier gezeigten Foto.

    Im September 1942 wurde Max Ansbacher zusammen mit seiner Mutter Minna ins Ghetto Theresienstadt deportiert und zwei Jahre später von dort nach Auschwitz. Dort wurde seine Mutter ermordet. Max jedoch kam nach zehn Tagen ins KZ Dachau, wo er dank eines gerade noch erträglichen Arbeitskommandos und der Solidarität der Häftlinge die harte Zwangsarbeit überlebte. Nach der Befreiung wanderte er über Belgien nach Palästina aus, arbeitete als Historiker in der Gedenkstätte Yad Vashem und in der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg. 2021 starb er in Jerusalem.

    In Unterfranken überleben konnten Kinder und Jugendliche nur dann, wenn sie ein nichtjüdisches Elternteil hatten. Davon gab es jedoch nur wenige, deren genaue Zahl nicht bekannt ist. Sie verhielten sich möglichst unauffällig und hinterließen folglich wenig Spuren in der Überlieferung. Bedroht und unter Druck gesetzt wurden auch sie, manche von ihnen zogen es vor zu fliehen. Denn sie wussten nicht, ob sie am Ende nicht auch noch deportiert würden.

    Im Versteck überlebten in Deutschland hingegen nur sehr wenige Kinder und vor allem Jugendliche mit zwei jüdischen Elternteilen. Beispiele kennt man aus Berlin. In Unterfranken scheint es keine Fälle dieser Art gegeben zu haben.

    Gedenklichter am DenkOrt Deportationen in Würzburg zur Erinnerung an die aus Unterfranken deportieren Kinder und Jugendlichen am  27. Januar 2024.
    Gedenklichter am DenkOrt Deportationen in Würzburg zur Erinnerung an die aus Unterfranken deportieren Kinder und Jugendlichen am  27. Januar 2024. Foto: Carla Waizmann

    Das Schicksal jüdischer Kinder und Jugendlicher unter dem Nationalsozialismus weist viele, meist tragische Seiten auf. Sie sind alle als Antwort auf und Folge der Verfolgungssituation zu verstehen. Nur die Breite der Beispiele erlaubt es, sich ein repräsentatives Bild davon zu machen, was mit der jungen Generation geschah.

    Dr. Rotraud Ries ist Historikerin und Expertin für deutsch-jüdische Geschichte. Sie leitete von 2009 bis 2022 das Johanna-Stahl-Zentrum für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken und hatte maßgeblichen Anteil am Projekt "DenkOrt Deportationen".

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