Manchmal geraten das Leben und die Psyche ganz plötzlich aus den Fugen, manchmal kommt eine psychische Erkrankung schleichend. Sie kann als Veranlagung genetisch weitergegeben worden sein oder aus heiterem Himmel durch einen Trauerfall oder ein traumatisierendes Erlebnis ins Leben einschlagen. Fest steht nur: Psychische Erkrankungen oder seelische Störungen können jeden Menschen im Laufe seines Lebens treffen. Genau deshalb möchte Sarah Kittel-Schneider, neue Professorin für Entwicklungspsychiatrie am Uniklinikum Würzburg und stellvertretende Klinikdirektorin im Zentrum für Psychische Gesundheit, Interesse wecken für die Krankheiten, die noch immer zu den Tabuthemen gehören. Wer möchte schon psychisch gestört sein oder als hyperaktiv oder manisch-depressiv aus dem Schema des fitten, gesunden Menschen herausfallen.
Konzert einer Mutmacherin gegen die Angst
Die junge Professorin ist voller Zuversicht, etwas zu bewirken mit ihrer Tätigkeit in einem Zentrum, das auf diese Erkrankungen spezialisiert ist. In einem Karton neben ihrem Schreibtisch liegen Flyer und Plakate. "Benefizkonzert gegen Depression " mit Viola Tamm aus Aschaffenburg, die in ihren Texten der Angst den Kampf ansagt. Die Sängerin macht sich stark für das Thema, weil sie aus eigener Erfahrung weiß, was es heißt, eine Panikattacke zu bekommen. Weil sie das Gefühl kennt, in einem Angsttunnel festzustecken, die Kontrolle zu verlieren, nicht mehr Herr der Lage zu sein. "Die Angst ist nicht dein Feind", singt Tamm als Mutmacherin für alle, die ein Leben in Schräglage führen. Das Konzert, für das die Flyer werben, wird am 26. September um 20 Uhr im Colos-Saal in Aschaffenburg stattfinden. "Öffentlichkeit ist wichtig bei dem Thema, deshalb unterstütze ich das gerne", sagt Sarah Kittel-Schneider.
Was geht im Gehirn vor sich?
Für die 38-Jährige, die zuletzt an der Uniklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in Frankfurt am Main arbeitete, war die Berufung nach Würzburg eine Rückkehr. Nach ihrem Studium in Würzburg hatte sie ihre Facharztausbildung für Psychiatrie und Psychotherapie in jenem Haus gemacht, das sie jetzt stellvertretend leitet. Und Kittel-Schneider will nicht nur therapieren. Sie will auch und gerade Erkenntnisse gewinnen, erforschen, was im Gehirn eines Menschen vor sich geht.
Was fehlt? Was funktioniert nicht? Welche Abläufe sind gestört? Aus welchem Grund? Die Neurobiologie hinter der Erkrankung ist Kittel-Schneiders Thema: "Seit Beginn meiner Doktorarbeit war ich fasziniert von biologischer und translationaler Psychiatrie.“ Ihr Schwerpunkt wurden die neurobiologischen Grundlagen von ADHS bei Erwachsenen und der bipolaren Störung.
"ADHS ist definitiv keine Modediagnose, darüber besteht in der Medizin kein Zweifel", sagt die Professorin. ADHS habe die höchste genetische Komponente von allen psychischen Erkrankungen, Männer seien etwas häufiger betroffen. Was oft übersehen wird: Nach der Pubertät, mit dem Übergang ins Erwachsenenalter verschwinde die meist bei Kindern festgemachte Krankheit nicht automatisch. "Verschwunden sind lediglich erstmal unsere Patienten, denn mit der Vollendung des 18. Lebensjahres fallen die ADHS-Kinder aus dem strikt von der Erwachsenenpsychiatrie getrennten Kinderpsychiatrie raus", sagt Kittel-Schneider. "Sie brechen die Behandlung ab, kommen nicht mehr in die Sprechstunde." Verschreibungsdaten würden zeigen, dass es zwischen dem 17. und 25. Lebensjahr eine eklatante Versorgungslücke gebe. Dabei, so die Ärztin, blieben beim überwiegenden Teil der Betroffen wesentliche Anzeichen auch im Erwachsenenalter bestehen.
Jungen Erwachsenen den Weg erleichtern
"Wir sehen viele Patienten dann erst später wieder, weil sie Hilfe brauchen, weil ihr Leben schwer beeinträchtigt ist, sie über Misserfolgserfahrungen berichten, etwa, dass sie ihr drittes Studium abgebrochen haben." Genau hier, an der Schwelle zum Erwachsenenleben, so die Psychiaterin, müssten die Netzwerke zwischen Kinder- und Erwachsenenpsychiatrie verbessert weden und ein stärkerer Austausch zwischen Psychiatern, Kinder- und Hausärzten sowie Schulen, Universität und Ausbildungsstätten stattfinden. "Die Hemmschwelle, alleine in die Erwachsenenpsychiatrie zu wechseln und die Behandlung dort fortzusetzen, ist für viele zu hoch", sagt Kittel-Schneider. Zudem gehe man von Seiten der Klinik von einer Eigenverantwortung der Patienten aus: "Da telefoniert man nicht mehr hinterher." Dabei sei das genau bei den 18- oder 19-Jährigen wichtig.
Damit junge Erwachsene nicht über Nacht alleine mit ihrer Krankheit sind, wollen die Verantwortlichen des Zentrums für psychische Gesundheit in Würzburg nun eine Ambulanz für 15 - bis 25-Jährige aufbauen. Denn nicht selten, so Kittel-Schneider, suchten junge Betroffene andere Wege, um mit ihrer Krankheit und dem großen, inneren Druck fertig zu werden. "Da gehört neben Alkohol unter anderem auch Kiffen dazu." Das Abi vielleicht gerade noch geschafft, "aber dann fehlt die Struktur". Und das "ausgerechnet in der Zeit eines ohnehin großen Umbruchs im Leben, wenn Ausbildung oder Studium beginnen und man dann auch häufig das Elternhaus verläst" ADHS heile entgegen einer weitverbreiteten Ansicht nicht automatisch mit dem Erwachsenwerden aus, sagt Schneider-Kittel: "Nur bei einem Drittel ist das der Fall, bei einem weiteren Drittel wird es besser, ein weiteres Drittel bleibt schwer beeinträchtigt."
ADHS: Versteckt hinter einer Depression?
Die Diagnose ADHS bei Erwachsenen ist laut der Ärztin schwierig. Das typische Symptom aus der Kindheit, die Hyperaktivität, steht nicht im Vordergrund. Erwachsene Patienten beschreiben vielmehr ein Gefühl der inneren Unruhe. Was aus der Kindheit aber bleibt, ist das Impulsive. So fallen Betroffene ihren Gesprächspartnern häufig ins Wort oder zeigen sich unbeherrscht, wenn es um das Einhalten von Regeln wie im Straßenverkehr geht. ADHS, so sagt die Professorin, verstecke sich bei Erwachsenen auch häufig hinter Begleiterkrankungen wie Depressionen, Angststörungen oder Suchterkrankungen.

Und ADHS kostet Kraft. Viele Betroffene bewegen sich, ausgelöst durch Chaos, Jähzorn, ständige Stimmungsschwankungen und Impulsivität, permanent am Rande des Scheiterns. "ADHS bei Erwachsen ist definitiv unterdiagnostiziert und bleibt oft unbehandelt", so Kittel-Schneider. "In einer Studie wurde festgestellt, dass von den wenigen, die eine Diagnose erhielten, nur 15 Prozent auch Medikamente oder eine Therapie bekamen." Dabei sei die Krankheit mit Medikamenten und Psychotherapie gut behandelbar - "vorausgesetzt, sie wird auch erkannt!". Ein Grund für Kittel-Schneiders Engagement in der Forschung: "Wegen der schwierigen Diagnose ist die Grundlagenforschung, die Suche nach Biomarkern so wichtig."
Forschung mit Zell-Modellen: Bei wem schlägt ein Medikament an?
Weil das Gehirn des Menschen so hochkomplex ist, ist auch die Forschung schwierig und langwierig. "Bis man tatsächlich versteht, was beim einzelnen Patienten in der Hirnrinde vor sich geht, dauert es noch viele Jahre", sagt Kittel-Schneider. In zehn bis fünfzehn Jahren will die Professorin in Würzburg aber zu verwertbaren Ergebnissen in ihrer Forschung mit Zell-Modellen kommen. Aus Hautzellen werden dafür im Labor Nervenzellen gewonnen. Ziel ist es, die Therapien entsprechend anzupassen und zu verbessern. Bei der Analyse spielten viele Faktoren eine Rolle: die Umwelt, Hormone, Gewicht. Und welche Wirkung haben zum Beispiel Medikamente wie Lithium, unter welchen Voraussetzungen kommt es zu Nebenwirkungen? Bei wem schlägt ein Mittel an, bei wem nicht? Und wird das vererbt?
ADHS-Kinder: Erhöhtes Risiko für bipolare Störung
Noch sind die Wirkmechanismen von Lithium nicht umfassend erforscht. Lithiumsalze gelten indes als wirksamstes Mittel bei manisch-depressiven Patienten, also bei bipolarer Störung. Das Spurenelement löst eine Reihe von intrazellulären Effekten aus und erhöht unter anderem die Ausschüttung von Serotonin.
Eine exakte Diagnose im Bereich der psychischen Erkrankungen gilt bis heute als schwierig. So ähneln die Symptome der bipolaren Störung denen von ADHS bei Erwachsenen. "Was mich dabei immer interessiert hat, ist, dass man auch beides haben kann", sagt Kittel-Schneider. Ein Kind, bei dem ADHS diagnostiziert wurde, habe ein erhöhtes Risiko, eine bipolare Störung zu entwickeln. Das mache es noch wichtiger, die Phase ins Erwachsenenalter bei ADHS-Patienten medizinisch zu begleiten, denn bei der bipolaren Störung komme es je nach Ausprägung in der depressiven Phase zu einer erhöhten Suizidgefahr. Die genaue Unterscheidung von psychischen Erkrankungen aber sei für die medikamentöse Behandlung entscheidend, so die Professorin: "Auf diesem Gebiet wird sich in den nächsten Jahren noch viel tun."
Psychische Erkrankungen Depressionen: Eine Depression unterscheidet sich von Stimmungstiefs auch durch die Beschwerden selbst, die wesentlich ausgeprägter auftreten. So berichten viele Menschen mit einer Depression, dass sie gar keine Freude mehr empfinden, sondern nur noch negative Gefühle in sich tragen und eine innere Leere erleben. Wiederkehrende Gedanken an den Tod oder an Suizid begleiten häufig eine Depression. Es gibt verschiedene Schweregrade. Leichte Depression: Hierbei gelingt es den betreffenden Personen noch unter großen Anstrengungen, den Alltag zu bewältigen. Mittelschwere Depression: Die Arbeitsfähigkeit ist bereits stark eingeschränkt. Auch soziale Kontakte werden zunehmend weniger gepflegt. Schwere Depression: In diesem Zustand ist es in der Regel nicht mehr möglich, zu arbeiten, den Haushalt zu erledigen oder Freizeitaktivitäten nachzugehen. Bipolare Störung: Die auch unter dem Begriff "manisch-depressiv" bekannte Erkrankung zeichnet sich durch ausgeprägte Schwankungen im Antrieb, im Denken und in der Stimmungslage aus. So durchleben Menschen mit bipolaren Störungen depressive Phasen und Phasen euphorischer oder ungewöhnlich gereizter Stimmung. Letztere gehen mit einem deutlich gesteigerten Antrieb einher. Sind diese Phasen schwach ausgeprägt, spricht man von hypomanen, in voller Ausprägung von manischen Episoden. Bei schweren Manien kommen Krankheitszeichen einer Psychose hinzu, zum Beispiel Größenwahn oder Verfolgungswahn. In der depressiven Phase ist die Suizidgefahr erhöht. Agoraphobie und Panikstörung: Der Begriff „Agoraphobie“ kann wörtlich mit „Platzangst“ übersetzt werden. Die betreffende Person hat Angst, das Haus zu verlassen, sich auf öffentlichen Plätzen aufzuhalten, Kaufhäuser oder Geschäfte zu betreten, in Menschenmengen, Kinos oder engen geschlossenen Räumen zu sein oder alleine mit Bahn, Bus oder Flugzeug zu reisen. Daher vermeidet sie diese Orte oder kann sich dort nur begleitet von großer Angst aufhalten. Panikattacken und Agoraphobie treten häufig zusammen auf. Agoraphobie und Panikstörung gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Fünf von 100 Menschen leiden mindestens einmal im Leben an einer dieser Störungen. Generalisierte Angststörung: Menschen mit generalisierter Angststörung leiden unter einem ständigen Gefühl von Besorgtheit und Anspannung in Bezug auf alltägliche Ereignisse und Probleme, zum Beispiel dass sie selbst oder die Angehörigen schwer erkranken oder einen Unfall haben könnten. Die Ängste sind deutlich stärker ausgeprägt als bei anderen Menschen, so dass der Alltag dadurch stark beeinträchtigt sein kann. Menschen mit generalisierter Angststörung sorgen sich übermäßig, auch wenn keine besondere Gefahr besteht. Sie können ihre Sorgen außerdem kaum oder gar nicht kontrollieren. Zu den Symptomen zählen Herzklopfen, Schweißausbrüche, Schwindel, die Angst, verrückt zu werden oder zu sterben, Hitzegefühl oder Kälteschauer, Muskelverspannungen, Konzentrationsschwierigkeiten, Reizbarkeit und Einschlafstörungen.