2Stunden und 40 Minuten dauert es, von Frankfurt nach Santiago de Compostela zu fliegen. Rechnet man die Anfahrt von Würzburg und das Prozedere am Flughafen dazu, schafft man es wohl in knapp sechs Stunden vom heimischen Sofa in die Hauptstadt Galiziens. Oder aber: Man nimmt sich mehrere Monate Zeit und läuft einfach los. Schritt für Schritt, über 2500 Kilometer auf dem Jakobsweg sind es von uns bis nach Nordspanien. Zweieinhalbtausend Kilometer, die schon so manches Leben komplett auf den Kopf gestellt haben.
Der Hype ist ungebrochen
2001 war Hape Kerkeling „dann mal weg“. Fünf Jahre später erschien sein Bestseller über seine sechs Wochen auf dem bekanntesten Pilgerweg der Welt. Seitdem ist der Hype ungebrochen. Sind es im Jahr 2000 noch 55.000 Pilger gewesen, die mindestens die letzten 100 Kilometer zur Kathedrale von Santiago de Compostela zu Fuß zurückgelegt haben und somit offiziell als Jakobsweg-Pilgerer zählen, waren es 2016 stolze 278.000 – so viele wie nie zuvor. In den vergangenen Jahren kamen jedes Jahr rund 30.000 Pilger dazu. In diesem Jahr zählte man bis Ende August schon 217.000.
Was macht den Reiz aus am langsamen Vorankommen? Züge werden immer schneller, Flugverbindungen effektiver, Fernbusse rasen über die Autobahnen Europas – und dann fangen die Leute an, lediglich 30 Kilometer am Tag zu laufen. „Man kommt vom Pilgern entspannter zurück, als aus jedem Urlaub. Und man lernt ein Land oder eine Gegend ganz anders kennen, wenn man sie sich erläuft“, sagt Andrea Trabel aus Karlstadt.
Job verloren - losgepilgert Die 65-Jährige ist „Pilger-Expertin“. 2006 liest sie Kerkelings Buch – und hat damals gerade ihren Job verloren. Mitte 50, ohne Arbeit, denkt sie sich: „Was der kann, kann ich auch.“ Trabel packt 2007 ihren Rucksack und macht sich von Frankreich aus auf den Weg nach Santiago. Über drei Monate ist sie unterwegs. Das Laufen räumt im Kopf auf, lenkt sie ab von den Sorgen daheim. Als sie in Santiago ankommt, ist sie süchtig: pilgersüchtig.

Doch wie bei jedem Süchtigen kommt irgendwann der Entzug. Andrea Trabel kehrt Ende Oktober zurück aus Spanien. Es ist kalt, grau, herbstlich. „Ich bin in ein Loch gefallen. Ich war körperlich fit wie nie zuvor, voller Energie – und hier hatte ich absolut nichts zu tun. Ich konnte nicht raus, weil das Wetter schrecklich war, im Garten gab es keine Arbeit. Es kam der Punkt, an dem ich Obdachlose beneidet habe – einfach, weil sie so frei da draußen rumziehen konnten“, erzählt sie im Rückblick.
600 Kilometer in einem Monat
Sie sitzt den Winter zu Hause ab und zieht im kommenden Jahr wieder los, diesmal zusammen mit ihrem Mann Stefan. Der heute 66-Jährige arbeitet zu der Zeit noch als Berufsschullehrer und kann nicht mehrere Monate am Stück freinehmen. Jetzt laufen sie den Jakobsweg zusammen ein zweites Mal – in Etappen. Bis 2013 hat das Ehepaar dann auch gemeinsam das Ziel erreicht: Santiago de Compostela. Wie die Trabels machen es viele. Rund 600 Kilometer schafft man in einem Monat, in zwei Wochen entsprechend weniger.
In der Pilgerherberge am Käppele: Nur eine billige Unterkunft ist nicht der Sinn
„Wir haben häufig Leute hier, die nur ein Stück des Jakobswegs laufen und bei uns unterkommen. Viele sind schon die Route durch Frankreich und Spanien gelaufen, ihnen fehlt aber noch das Stück von zu Hause bis dorthin“, sagt Ulrike Shanel. Sie ist Pfarrhausfrau des Würzburger Pfarrers Josef Treutlein und managt die Pilgerherberge am Käppele.

Als 2015 die Herberge eröffnet wurde, kamen 35 Pilger. 2016 später waren es schon mehr. Und in diesem Jahr haben bislang über 60 Pilger in den ehemaligen Klosterzellen geschlafen. „Bisher waren alle begeistert“, sagt Ulrike Shanel. Das liege auch daran, dass es am Käppele sieben Einzelzimmer und nur ein Doppelzimmer gibt. „Viele kommen und sind echt froh, mal etwas Raum für sich zu haben.“ In den meisten Herbergen sind Schlafsäle für zehn Personen und mehr keine Seltenheit. 15 Euro kostet die Nacht ohne Frühstück in der Herberge in Würzburg, nur Pilger dürfen dort übernachten. „Ab und zu müssen wir Leute abweisen, die einfach nur eine billige Unterkunft suchen. Denn das ist nicht der Sinn der Sache.“
Alt und jung, strenggläubig oder gar nicht
Ja, die Frage nach dem Sinn. Sie umtreibt viele Pilger. Im Gästebuch der Würzburger Herberge steht es geschrieben: „Ich hoffe, die Antwort auf diese eine Frage zu bekommen“, hat eine Frau notiert. „Es ist hochinteressant, wie unterschiedlich die Leute sind, die hier vorbeikommen“, sagt Shanel. „Bestimmt die Hälfte ist nicht katholisch, und von den Leuten ist sicher noch mal die Hälfte auch nicht getauft. Aber das macht keinen Unterschied.“ Und alle Altersgruppen seien dabei, vom Studenten bis zum Senior. Ob alt oder jung, strenggläubig oder gar nicht – das Angebot, einmal mit Pfarrer Treutlein übers Leben zu sprechen, nehmen viele dankend an.
Auch für die Trabels steht der Glaube nicht an erster Stelle, wenn sie die Wanderschuhe anziehen und lospilgern. Und doch sagen sie: „Die Kirchen unterwegs sind uns schon wichtig, um mal einzukehren und innezuhalten. Sie sind auch immer wieder kleine Etappenziele.

“ Nachdem sie den Jakobsweg gelaufen sind, haben sie angefangen, andere Routen zu erkunden, sowohl in der Region als auch im Ausland: Den Erzengel-Michael-Weg von Rieti bis an den Gargano in Italien sind sie gelaufen, ebenso den Franziskusweg von Florenz bis Rom und die Via Francigena von Rom bis nach Santa Maria di Leuca an der Absatzspitze. In Deutschland waren sie unter anderem schon von Erfurt bis Uffenheim, von Rothenburg bis Freiburg und von Fulda bis Würzburg auf dem Jakobsweg unterwegs. Zuletzt liefen sie im Sommer von Nürnberg nach Rothenburg.
Es geht auch um die Dinge am Wegesrand
Ob nur ein paar Tage oder mehrere Wochen – „wir entdecken immer wieder Dinge am Wegrand, die interessant, schockierend oder schön sind“, sagt Andrea Trabel. „Sei es der viele Müll, der in Italien in die Natur geschmissen wird und einen traurigen Gegensatz zur wunderschönen Landschaft bildet. Oder die intensive Landwirtschaft hierzulande. Oder die Herzlichkeit, mit der sie selbst in den entlegensten Dörfern empfangen werden – „die Eindrücke hören nicht auf“.
Die Leidenschaft wurde Beruf
Ihre Leidenschaft hat Andrea Trabel mittlerweile zum Beruf gemacht. Seit einigen Jahren arbeitet sie im Büro der fränkischen St. Jakobus-Gesellschaft in Würzburg. Der Verein kümmert sich unter anderen mit vielen Ehrenamtlichen um die Pflege der Wege im fränkischen Raum, vermittelt Interessierten den Kontakt zu sogenannten Pilgerberatern, die Neulingen Hilfe anbieten und stellt die Pilgerausweise aus. Gerade in Spanien und Frankreich werden die benötigt, um sich als Pilger auszuweisen und in den Unterkünften unterzukommen. Rund 7000 Ausweise werden jährlich für Pilger aus ganz Franken ausgestellt.

„Ich bin dann mal weg“ von Hape Kerkeling hat Andrea Trabel mittlerweile noch einmal gelesen. „Und danach hab ich mir gedacht: Der ist doch nicht gepilgert.“ Ihre Erfahrungen sind andere, als die des Entertainers, der immer mal wieder Strecken mit Bus oder Auto zurückgelegt hat. Ihn verurteilen möchte sie deshalb aber nicht. „Das Pilgern, so viele Leute es mittlerweile auch machen, ist für jeden Menschen anders. Auch wenn alle die gleiche Strecke laufen – es ist immer wieder einzigartig.“
Das Jakobswege-Netz ist in ganz Deutschland und Europa gut ausgebaut und verzweigt. Bevor man nach Santiago de Compostela loszieht, empfiehlt es sich, sich bei der regionalen Jakobusgesellschaft zu informieren. Viel Wissenswertes rund um den Jakobsweg in Franken bietet die Fränkische St. Jakobus-Gesellschaft Würzburg e.V.. Sie wurde 1988 gegründet und zählt heute knapp 1500 Mitglieder und viele Freunde in ganz Europa. Der Verein stellt auch die offiziellen Pilgerausweise (Credenciales) aus, die zum Übernachten in den Pilgerherbergen berechtigen. Und Interessierte bekommen praktische Pilgertipps. Zum Beispiel: Wie packe ich meinen Rucksack? Die Gesellschaft feiert an jedem zweiten Samstag im Monat um 17.30 Uhr in der Würzburger Kirche der Theresienklinik in der Domerschulstraße einen Vorabendgottesdienst. Dabei können Pilger einen Pilgersegen erhalten. Anmeldung bitte vorher bei Norberta Köhler, Tel. (0931) 416-139. Beim anschließenden „Pilgerhock“ kann man sich mit erfahrenen Pilgern austauschen und beraten lassen. Infos: www.jakobus-franken.de Buchtipp: „Jakobswege in Franken – Unterwegs auf alten Pilgerpfaden“, von S. Arenz, N. Stadelmann und R. Weirauch, ars Vivendi Verlag 2017, 192 Seiten, 15 Euro