Papier ist ein Werkstoff, der „flexibel bearbeitet werden kann und nachhaltig ist“ und – das betont Martin Spiegel Junior ausdrücklich – „es schwimmt nicht wie Plastik im Meer“. Papier türme sich nicht auf zu Müllinseln, wie an manchen Orten im Ozean. Doch komplett schlechtreden, das will der Geschäftsführer der gleichnamigen Kartonagenfabrik in Höchberg den Kunststoff auch nicht. „Er hat durchaus gute Seiten“, lenkt sein Sohn und gleichberechtigter Geschäftsführer Michael Spiegel (37 Jahre alt) ein.
Es ist ein Zwist, ein immer größerer Konkurrenzkampf zwischen zwei Materialien, die gegensätzlicher nicht sein könnten, die Frage nach Plastiktüte oder Papierkarton. Und genau das macht für Vater und Sohn den Reiz ihrer Arbeit aus. Auch wenn die Herausforderungen früher andere waren, die Begeisterung fürs Eintüten in Papier hält in der Familie schon in der vierten Generation an. Nun feiert die Firma „Spiegel Verpackungen“ ihr 100-jähriges Bestehen.
„Die kleinste Verpackung? Das war für Klarinetten-Zungen.“
Martin Spiegel Jun. Geschäftsführer
Vor 100 Jahren machte sich Martin Spiegel Senior mit seiner eigenen Kartonagenfabrik selbstständig. Auslöser war, dass sein damaliger Arbeitgeber, eine Würzburger Druckerei, trotz großer Nachfrage keine unbedruckten Verpackungen herstellen konnte. In der Reuerergasse mietete sich der Buchbindermeister 1914 einen Werkstattraum, ausgestattet mit einfachsten Mitteln.
Kurz danach kam ihm zwar der Erste Weltkrieg in die Quere, Spiegel wurde eingezogen, seinen Pioniergeist aber verlor er nicht. Nach seiner Rückkehr entwickelten sich für seine Firma sogenannte Lagerkartons zu absoluten Rennern. Schubladen aus Papier, sechs verschiedene Größen, für Fachbetriebe wie Schreibwarenhandel und den Tante-Emma-Laden. Aufgrund der steigenden Nachfrage und den Einsatz von immer mehr Maschinen zog das Unternehmen weiter um in die Erthalstraße und dann an den Exerzierplatz.
Doch der Zweite Weltkrieg zerstörte mit einem Schlag scheinbar alles, die Bombardierung Würzburgs am 16. März 1945 traf auch den Betrieb. Martin Spiegels Tatkraft blieb: Ein halbes Jahr später baute er seine Firma wieder auf, diesmal in der Leistenstraße. Ein Teil seiner ausgeglühten Maschinen wie auch angesengte Kartonagen wurden geborgen und genutzt. Karton aber war rar, die Familie Spiegel sammelte Altpapier und tauschte es bei entsprechenden Fabriken im Umland ein. 1965 starb Martin Spiegel Sen., sein Nachfolger wurde Sohn Johann Spiegel (gest. 2006), 1985 dessen Sohn Martin Spiegel Jun.
Die Produktion umfasste einst Stulpkartons für Textil- und Kerzenfabriken bis Kalenderwände, in den 1980ern entwickelten sich dann Faltschachteln zum Hauptgeschäft. Seit 1988 befindet sich „Spiegel Verpackungen“im Höchberger Gewerbegebiet.
Wie stark der Erfolg eines Unternehmens vom Zusammenhalt der Familie abhängt, beweisen nicht nur die Anfänge der Kartonagenfabrik. „Da haben meine Großeltern, mein Vater und Tanten geholfen“, erinnert sich der Senior-Chef. Heute zählt der Betrieb 40 Mitarbeiter, darunter Michael Spiegels Frau, eine Tante, Cousinen und sein Bruder Benedikt.
Die Offenheit für die verschiedensten Vorstellungen der Kunden sind ebenfalls förderlich. „Wir produzieren auch eine geringe Stückzahl“, erklärt Michael Spiegel. Im Prinzip könne sogar dem Wunsch nach nur einer Verpackung nachgekommen werden, genauso aber nach weit über einer Millionen. Zwischen Auftrag und Endprodukt liegen laut Michael Spiegel – je nach Stückzahl – selten mehr als drei Wochen.
Pro Jahr gehen um die 2000 Aufträge in der Firma ein. Die Auftraggeber sind alles andere als naheliegend – jüngst hat ein holländischer Unternehmer nach entsprechend geeigneten Verpackungen für eine Shrimps-Abfertigung in Bangladesch angefragt, das macht 1,5 Millionen Kartons in einer Woche. Die kleinste Verpackung, die das Unternehmen hergestellt hat, daran erinnert sich Martin Spiegel Jun. noch genau: „Das war für Klarinetten-Zungen“, sagt der 66-jährige Höchberger. Kistchen in Millimetermaßen, 400 000 Stück waren damals angefordert worden, da jagten pro Stunde 15 000 Verpackungen durch die Klebemaschine in der Fabrik. Die größten Verpackungen gingen für Küchengeräte weg, bis zu 20 Kilogramm Gewicht mussten die standhalten.
Ein Auftrag aber ist ihm besonders im Gedächtnis geblieben. Nach dem Terroranschlag auf das New Yorker World Trade Center im September 2001 kauften die US-Amerikanern vermehrt Kerzen. Der gestiegene Bedarf kam auch in Höchberg an: Sechs Millionen Schachteln für die Trostleuchten wurden geordert. Und auch der plötzliche Erfolg einer englischen Firma mit Anti-Faltencreme ging an den Höchbergern nicht vorbei: In vier Wochen mussten 24 Millionen Serumverpackungen, verteilt auf vier Millionen Verpackungen herstellt werden. Und man ist preisgekrönt: 2012 hat die Kartonagenfabrik den Deutschen Verpackungspreis gewonnen, mit einem Spätzle-Dosierbeutel.
Krisen will Martin Spiegel jun. aber nicht leugnen. Wie etwa Ende der 1970er Jahre, als nach und nach die Schuhfabriken in Würzburg schlossen und damit der Bedarf an Schuhkartons allmählich verschwand. „Anfang 2000 gingen vier große Kunden insolvent“, erzählt Martin Spiegel. Die Verlagerung der Produktion von Christbaumkugeln und damit ihrer Verpackung nach Fernost oder die Umlagerung von Wäscheklammern in Plastikbeutel statt wie bisher in Pappschachteln machten dem Unternehmen zusätzlich zu schaffen.
Vorm Aus aber stand der Betrieb nie, denn laut Martin Spiegel ist die Firma ein klassischer Familienbetrieb: Der Zusammenhalt groß, und Blut dicker als Wasser. Auch sein Sohn Michael ist sich sicher, dass „Spiegel Verpackungen“ seit 100 Jahren eben einen guten Produktmix biete. Und auch die Verschärfung des Wettstreits zwischen Plastik und Papier erhalte den Ehrgeiz aufrecht.
Und wie lautet die nächste innovative Idee von Michael Spiegel? Er will den Plastikbeuteln, in denen Müsli zusätzlich zum Karton verschweißt ist, an den Kragen.