Der Speiseplan der Würzburger Mensa am Hubland sah für die dritte Januarwoche unter anderem folgende Gerichte vor: Brasilianischer Eintopf mit Bohnen und Gemüse, Ofenfrischer Krustenbraten mit bayrisch' Kraut, Nasi-Goreng, Zucchinisuppe mit Minze, Balinesische Reispfanne, Antipasti mit Baguette. Alles Gerichte, die der moderne Mensch mag und wie sie heute in vielen deutschen Haushalten auf dem Tisch stehen. Nun denken wir uns 100 Jahre zurück. Damals aß man anders.
Die Bayern mochten kein Gemüse
Das Image von Gemüse war schlecht. Nur wenige Fortschrittliche propagierten eine vegetarische Ernährung. Die gängige Lehre vertrat die Ansicht, dass Gemüse „brauchbare Zugaben zu Fleisch und andrer nahrhafter Kost [sind]; allein genossen sind sie ein geringwertiges Nahrungsmittel“ (Meyers Großes Konversationslexikon, 6. Auflage 1905-1909, Bd. 6, S. 542). Besonders in der bayerischen Küche spielte Gemüse Anfang des 20. Jahrhunderts keine große Rolle. Mehlspeisen und Fleisch waren beliebt. Umso stärker traf im Ersten Weltkrieg der Mangel an Fleisch und Getreide die Bevölkerung.
Eine Reihe von Kriegskochbüchern erschien, so auch das Bayerische Kriegskochbüchlein. Es wollte in Zeiten von Lebensmittelknappheit mit Tipps und Rezepten helfen. In seiner Einleitung wird die Gemüseabstinenz der Bayern bitter beklagt:
„Und nun das Stiefkind der bayerischen Küche: die Gemüse. In vielen Gegenden Bayerns kennt man außer Kartoffeln, Sauer-, Rübenkraut vielleicht noch den Wirsing. Gemüse muß uns andere Nahrungsmittel ersetzen. Jede Hausfrau soll lernen, es so zu kochen, daß Mann, Kinder und Gesinde gern Gemüse essen. Gelbe Rüben, Spinat, Bohnen, Kohlrabi, richtig mit Fett und Mehl zubereitet, dazu ein tüchtiges Stück Roggenbrot, vorher Gersten- oder Käsesuppe, geben ein vollkommen ausreichendes Essen.“ (Bayerisches Kriegskochbüchlein, 5. Auflage ca. 1916, S. 5/6).
Auch im Frieden war Importware, wie sie die Mensaküche voraussetzt, teuer und man war auf heimische Lebensmittel angewiesen. (Es wurde eine regionale Küche gepflegt – wie man heute sagt.) Im Winter standen als Gemüse neben Kohl vor allem Rüben zur Verfügung. Gelbe Rüben, Rote Rüben, Weiße Rüben, Steckrüben. Rüben werden im Frühjahr gesät und sind im späten Herbst erntereif. In einer sogenannten Miete, einem aufgeschütteten Sandhaufen, können sie lange im Kühlen gelagert werden. Auf diese Weise war der Vorrat über den Winter gesichert.
Rüben im Salat, Rüben in der Suppe, Rüben als Gemüse
Welche Gerichte werden aus Rüben zubereitet? Schlagen wir in einem zeitgenössischen Kochbuch nach. Das Kochbuch des Bayerischen Vereins für Wirtschaftliche Frauenschulen auf dem Lande (erschienen in der dritten Auflage anno 1916 in München) bietet eine Auswahl von Rübenrezepten an: Gelbrübengemüse, Gelbrüben mit Kartoffeln, Gelbrübensuppe, Gelbrübensalat, Rotrübensalat, Weiße Rüben, Weiße Rüben als Brei, Rübenkraut, Bayrische Rüben mit Schweinefleisch, Dotschen oder Erdkohlrabi. So hießen und heißen die Steckrüben noch heute in Altbayern und Franken.
Rüben werden zu Suppe, Gemüse, Brei und Salat verarbeitet. Für Salat aus Gelben oder Roten Rüben verwendet man selbstverständlich gekochte Rüben: Rohkost war nahezu unbekannt. Nur Vegetarier aßen so etwas wie rohes Gemüse.
Die Vielzahl der Gerichte mit Gelben Rüben verwundert nicht – anders als die ebenso vielen Rezepte, die Weiße oder Bayerische Rübe verwenden. Laut den Zutatenlisten handelt es sich um ein und dieselbe Feldfrucht. Damals ein weitverbreitetes Standardgemüse, ist sie heute kaum noch zu finden. Was die Weiße oder Bayerische Rübe in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat verschwinden lassen, ist nicht bekannt. Ihre nahen Verwandten, die Teltower Rübchen, gelten heute jedenfalls als Delikatesse und werden ab November auf unseren Märkten angeboten.
Rezept für Rüben mit Schweinefleisch
2 Pfund (= 1 kg) Rüben
1/2 Pfund (= 250 g) Schweinefleisch
3/4 l Wasser Salz
2 Eßl. Fett
4 Eßl. Mehl
1 Prise Zucker Die Rüben werden gewaschen, geschabt, nochmals gewaschen, mit Wasser und Salz zum Kochen aufgesetzt. Wenn die Rüben eine Weile gekocht haben, legt man das vorbereitete Schweinefleisch ein und kocht beides zusammen 1 Stunde. Aus Fett, Mehl und Zucker macht man eine dunkle Einbrenne, löscht sie und gibt sie an die Rüben, lässt sie gut durchkochen. Das Fleisch wird in Stücke geschnitten und dann auf die angerichteten Rüben gelegt. Zubereitungszeit: 2 Stunden.
Das Einmieten war eine Möglichkeit der Vorratshaltung. Rüben, Kohl, Rote Beeten, Pastinake, Knollensellerie – alle typischen Herbstgemüse lassen sich, in Erde oder Sand geschützt, so durch den Winter bringen. Salzen und säuern war die andere Möglichkeit. Geläufig ist uns allen das Sauerkraut, aber nicht nur das eignet sich für diese Art der Konservierung. Im genannten Kochbuch steht auch das Rezept für Rübenkraut. Darunter ist nicht der süße Brotaufstrich zu verstehen, sondern geraffelte Weiße Rüben sauer vergoren.
Rezept für Rübenkraut
1 1/2 Pfund (= 750 g) Rübenkraut
1 Eßl. Fett
1/4 l Wasser
1 Eßl. Mehl zum Stauben
etwas Wein oder Essig Das Rübenkraut wird wie Sauerkraut gedünstet in Fett und Wasser, dann gestaubt und etwas nachgewürzt. Zubereitungszeit: 2 Stunden.
So sah die Wintergemüseküche vor 100 Jahren aus. Und heute? Gelbe und Rote Rüben finden wir auf dem Markt und im Kochbuch. Der Steckrübenwinter der Hungerjahre ist immer noch lebendig in der kollektiven Erinnerung und das Gemüse aus dem Kochbuch gestrichen. Die Rezepte für Bayerische Rüben als Gemüse, Brei oder mit Schweinefleisch sind schon lange vergessen, aber noch immer findet man das Rübenkraut im Bayerischen Kochbuch (56. Auflage 2007). Es ist aus dem Kochbuch des Bayerischen Vereins für Wirtschaftliche Frauenschulen a.d.L. hervorgegangen. Das Rezept hat sich kaum verändert. Anfang der 30er Jahre wurde es mit einer Einbrenne aus Zucker und fein geschnittener Zwiebel verfeinert. Wer heutzutage das Rübenkraut nicht selber sauer einlegen will, der kann es auf dem Würzburger Markt kaufen – aber nur auf Bestellung.
Das Salzen von Gemüse bewirkt eine Milchsäuregärung. Andere sagen dazu Fermentierung. Und fermentiertes Gemüse ist gerade sehr chic in der „Nova-Regio“-Küche. So hipp kann eine altes, fast vergessenes Rezept sein. Vielleicht essen wir doch nicht so anders als vor 100 Jahren?
Die Autorin Dr. Regina Frisch hat Germanistik und Philosophie studiert, in Deutscher Sprachwissenschaft promoviert und ist als Informationsdesignerin tätig. Seit vielen Jahren beschäftigt sie sich mit dem Bayerischen Kochbuch und seinen Auflagen. Im Herbst 2016 ist im Pustet Verlag ihre „Biografie eines Kochbuchs. Das Bayerische Kochbuch erzählt Kulturgeschichte“ erschienen. Regina Frisch lebt mit ihrer Familie in Theilheim.
Infos: www.ResteFerwertung.de