I ch weiß nicht, wie es hat geschehen können. Schließlich bin ich kein Kind mehr, bin fast fünfzig Jahre und hätte wissen müssen, was ich tat. . . Aber es ist passiert, und so hat mir der Heilige Abend die Kündigung beschert.
Alles war reibungslos verlaufen: Ich hatte beim Dinner serviert, kein Glas umgeworfen, keine Soßenschüssel umgestoßen, keinen Rotwein verschüttet, mein Trinkgeld kassiert und mich auf mein Zimmer zurückgezogen, Rock und Krawatte aufs Bett geworfen, die Hosenträger von den Schultern gestreift, meine Flasche Bier geöffnet, hob gerade den Deckel von der Terrine und roch: Erbsensuppe. . .
D a ging meine Zimmertür auf, und herein kam der Bengel, der mir beim Dinner aufgefallen war: klein, blass, bestimmt nicht älter als acht, hatte sich den Teller hoch füllen und alles, ohne es anzurühren, wieder abservieren lassen: Truthahn und Kastanien, Trüffeln und Kalbfleisch, nicht mal vom Nachtisch, den doch kein Kind vorübergehen lässt, hatte er auch nur einen Löffel gekostet, ließ sich fünf halbe Birnen und 'nen halben Eimer Schokoladensauce auf den Teller kippen und rührte nichts, aber auch nichts an. . .
Leise schloss er die Tür hinter sich und blickte auf meinen Teller, dann mich an: "Was ist denn das?", fragte er. "Das ist Erbsensuppe", sagte ich. "Darf ich mal kosten?" - "Sicher, bitte", sagte ich, "setz dich hin". Nun, er aß drei Teller Erbsensuppe.
B ist du zu mir gekommen, um Erbsensuppe zu essen?" - "Nein, ich suchte nur jemand, der mir helfen kann, eine Kuhle zu finden. Ich dachte, du wüsstest eine". Kuhle, Kuhle, dann fiel's mir ein, zum Murmelspielen braucht man eine, und ich sagte: "Ja, weißt du, das wird schwer sein, hier im Haus irgendwo eine Kuhle zu finden". - "Können wir nicht eine machen", sagte er, "einfach eine in den Boden des Zimmers hauen".
Ich weiß nicht, wie es hat geschehen können, aber ich hab's getan, und als der Chef mich fragte: "Wie konnten Sie das tun?", wusste ich keine Antwort. Sollte ich erklären, dass ich drei Stunden, drei geschlagene Stunden lang mit dem Jungen Kuhle gespielt habe?
I ch hätte wissen müssen, was ich tat, und hab's doch getan: Ich bin mit dem Aufzug zum Hausmeister hinuntergefahren, hab' Hammer und Meißel geholt, bin mit dem Aufzug wieder raufgefahren, hab' ein Loch in den Parkettboden gestemmt. Schließlich konnte ich nicht ahnen, dass seine Mutter darüber stolpern würde, als sie nachts um vier betrunken aus der Bar zurückkam. Offen gestanden, ganz so schlimm finde ich es nicht, auch nicht, dass sie mich rausgeschmissen haben. Gute Kellner werden überall gesucht.
"Monolog eines Kellners" - so heißt diese Weihnachtsgeschichte von Heinrich Böll aus dem Jahr 1955. Diese Geschichte macht vor allem eins deutlich: Wenn die Seele Hunger hat, kann man sie nicht mit Wohlstand füttern. Der von dem Kellner beschriebene Junge erlebt den Heiligen Abend nicht in der heimeligen Umgebung eines Wohnzimmers, sondern im perfekten, aber kühlen Ambiente eines Hotels. Es gibt ein exquisites Weihnachtsessen mit mehreren Gängen an einem festlich gedeckten Tisch. Doch der Junge weist das Essen zurück, nicht, weil es ihm nicht schmeckt, sondern weil er sich nach menschlicher Wärme sehnt, die er von seiner Mutter offenbar nicht bekommt. Während die Mutter sich an der Hotelbar betrinkt, findet der Junge in dem Kellner einen Menschen, der für ihn Zeit hat, mit ihm spielt und für ihn sogar die Kündigung in Kauf nimmt. So findet der Junge in dem Kellner einen Vater. Zumindest für einen Abend.
Die Erbsensuppe ist das liturgisch korrekte Essen für den Heiligen Abend. Denn der Heilige Abend gehört streng genommen nicht zum Weihnachtsfest, sondern zur Adventszeit, die in der kirchlichen Tradition eine Fastenzeit ist. Erst mit der Christmette, die am Heiligen Abend nicht vor 22 Uhr beginnen darf, wird das Weihnachtsfest eingeläutet. Neben der liturgischen Begründung gibt es auch einen praktischen Grund für die Erbsensuppe. Der Heilige Abend ist, wenn er nicht auf einen Sonntag fällt, ein halber Werktag, der mit den Vorbereitungen auf das Weihnachtsfest mehr als ausgefüllt ist. Aus diesem Grund entscheiden sich viele Hausfrauen und -männer dafür, am Heiligen Abend eine zeitsparende Mahlzeit aufzutischen und das große Festessen erst am 1. Weihnachtsfeiertag, wenn mehr Zeit vorhanden ist, es zuzubereiten.
E s liegt nahe, nach dem Rezept für die oben genannte Erbsensuppe zu fragen. "Sämig" muss sie sein, erklärt Heinrich Böll, vor allem "sämig": Man nehme 150 Gramm getrocknete Erbsen und gebe sie in eine Schüssel. Dann die Schüssel mit einem halben Liter Wasser auffüllen, bis die Erbsen ganz bedeckt sind. Dann die Erbsen über Nacht einweichen lassen und am nächsten Tag zusammen mit dem Wasser und einem Lorbeerblatt zum Kochen bringen. Dann 150 Gramm Kartoffeln in Würfeln zugeben und bei mittlerer Temperatur 30 Minuten weiterkochen lassen. Dann die Suppe mit einem Kartoffelstampfer etwas zerdrücken und bei niedriger Temperatur 30 Minuten ziehen lassen. Zuletzt 150 g gewürfelten Speck zugeben und mit frisch gemahlenem Pfeffer würzen.
Auch für die Gestaltung des Heiligen Abends gibt es ein Rezept: Man nehme einen kleine Tanne oder Fichte, schmücke sie mit Kerzen oder Sternen. Darunter eine Krippe mit Maria, Josef und Jesuskind aufbauen.
A uch der Weihnachtsengel, ein Hirte mit Hund und Schafen sowie Ochs und Esel dürfen nicht fehlen. Dann in die Kindermesse oder die Christvesper gehen, die Weihnachtsgeschichte aus Lukas 2 hören und das Lied "O du fröhliche" singen. Dann nach Hause gehen und die besagte Erbsensuppe essen. Dann die Geschenke austeilen, eine Kuhle graben und mit den Kindern mindestens drei Stunden Murmeln spielen. Zuletzt den ganzen Festtagsstress mit einem Kartoffelstamper zerdrücken und den Heiligen Abend mit dem Lorbeerblatt der Gelassenheit krönen. Sämig muss er sein, der Abend, vor allem sämig.
Autor Niko Natzschka ist evangelischer Pfarrer in der Würzburger Martin-Luther-Kirche.