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WÜRZBURG: Studentinnen gestalten bewegenden "Fluchtatlas"

WÜRZBURG

Studentinnen gestalten bewegenden "Fluchtatlas"

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    Das Gesicht der Frau ist kaum zu erkennen. Tiefe Einschnitte überziehen das Schwarz-Weiß-Porträt, lassen es verletzlich und verwüstet wirken. „Sie musste fliehen, weil sie ihrer Tochter die Beschneidung ersparen wollte“, steht in kleinen weißen Buchstaben geschrieben. „Sie“ bleibt anonym. Steht für viele, die das gleiche Schicksal haben. Genauso wie „Er“, dessen bester Freund bei der Flucht durch das Gebirge vor seinen Augen hunderte Meter in die Tiefe stürzte. „Wir wollen nach außen zeigen, was die Menschen innen zerstört hat“, sagt Lilli Scheuerlein. Die 23-jährige Würzburger Studentin hat gemeinsam mit zwei Kommilitoninnen einen „Fluchtatlas“ konzipiert – und damit den Nerv der Zeit getroffen. In Hamburg sind die drei vom Art Directors Club gemeinsam als „Student des Jahres“ ausgezeichnet worden.

    „Der Atlas war eine Semesterarbeit in unserem Grafikdesign-Kurs“, sagt die Zweite im Bunde, Yvonne Moser. An der Hochschule für angewandte Wissenschaft Würzburg-Schweinfurt sollten sie ein gesellschaftlich relevantes Thema visuell ansprechend gestalten. Die drei entschieden sich für den Oberbegriff „Flucht“ – wenn auch erst nach langem Zögern. „Wir dachten anfangs, dass wir dem Thema nicht gerecht werden können“, gesteht Moser. Keine blanken Fakten, sondern eine Stimmung wollten sie transportieren – und das in einem geeigneten Medium.

    „Wir haben uns für einen Atlas entschieden, weil es ein weltweites Problem ist“, erläutert die 21-jährige Gerolzhöferin. Mit dem DIN-A3-großen und 145 Seiten starken Werk habe man der Schwere und dem Ausmaß des Themas auch optisch gerecht werden wollen. „Ein Atlas steht ja eigentlich für Freiheit“, erklären sie. „Die Flüchtlinge sind dagegen gefangen in der Freiheit.“

    Drei Titel sind in das schwarze Buch eingeprägt: „Heimat“, „Flucht“ und „Schutz“. Bilder, Grafiken und kurze Textpassagen erwecken die Geschichten der Flüchtlingen zum Leben. So etwa die des Äthiopiers, der stundenlang zwischen 41 Leichen in einem LKW-Container ausharrte. Oder die der jungen Frau, die auf ihrer Flucht durch die Wüste Sinai von kriminellen Beduinen monatelang festgehalten, kopfüber an die Decke gehängt und mit Elektroschocks und Schlägen gequält wurde. Oder die des Libyers, der mit seiner Familie über das Mittelmeer floh – und zusehen musste, wie seine beiden Kinder gemeinsam mit 200 anderen Insassen ertranken.

    Der Atlas tut weh, die Geschichten treffen einen, auch weil sie nicht voyeuristisch aufgemacht sind. Um die Zitate und Fotos herum ist vor allem eines: Leere. „Der Betrachter wird leise angesprochen und nicht angeschrien“, sagt Yvonne Moser. Durch wirre Striche, zerpflückte Zitate und verschwommene Gesichter soll man sich beim Durchblättern genauso orientierungslos fühlen wie die Menschen auf ihrer Flucht.

    Die bewegenden Einzelschicksale, die stellvertretend für viele visualisiert wurden, haben die drei aus Gesprächen mit Flüchtlingen in der Würzburger Gemeinschaftsunterkunft ausgewählt. Über zwei Monate hinweg tauschten sie sich mit den Bewohnern aus – für die Studentinnen ein einschneidendes Erlebnis.

    „Und war es teilweise richtig unangenehm nach den Leidensgeschichten zu fragen“, erinnert sich Moser. Man habe über Wochen das Vertrauen der Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, Libyen, Somalia, Äthiopien, Eritrea, Iran oder auch Irak langsam auf- und die Sprachbarriere abbauen müssen. „Es war uns wichtig, ihre Reise zu verstehen“, betont Lilli Scheuerlein. Die Treffen seien für alle drei „sehr bewegend“ gewesen: „Wir saßen danach oft minutenlang schweigend im Auto.“

    In Tag- und Nachtschichten brachten sie das Erlebte, Fotografierte und Recherchierte auf Papier, verwarfen Ideen und entdeckten neue. „Eine ganz große Hilfe war unser Dozent Prof. Christoph Barth, der uns immer wieder ermutigt hat, weiterzumachen“, betonen die Studentinnen. Er war es auch, der sie höflich zwang beim Kreativwettbewerb des Art Directors Club teilzunehmen.

    „Das ist in der Branche die krasseste Auszeichnung“, klärt Scheuerlein auf. Umso überraschter waren die Mittzwanziger, als sie in Hamburg für ihren „Fluchtatlas“ tatsächlich die Auszeichnung „Student des Jahres“ entgegennehmen durften. „Eine Jurorin sagte, dass jeder beim Blättern Gänsehaut gehabt habe. Das war für uns das größte Lob.“

    Der Atlas, der einzeln in der Produktion rund 170 Euro kostet, wandert derzeit von Ausstellung zu Ausstellung, von Hamburg über Berlin nach Stuttgart. „Demnächst steht ein Gespräch mit einem Verlag an“, verraten die drei. Was dabei rauskommt, wird sich zeigen. Ihr eigentliches Ziel haben die Sechstsemester mit ihrem „Fluchtatlas“ aber schon erreicht: „Wir wollen auf das Thema aufmerksam machen, denn nur so kann sich etwas ändern.“ Einen Einblick in den Fluchtatlas gibt es hier.

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