würzburg Sie lassen die Kleider zu Boden fallen und ziehen sich durch eine Türe hinter die Bühne zurück. Ihr Gesang steigert sich, bis sich die Spannung in lustvollen Tönen entlädt - "Amor, Amor!" Es klingt gedämpft durch die Kulissen in den Zuschauerraum. Mimi und Rodolfo auf dem Höhepunkt? Wer noch nie die Idee hatte, Giacomo Puccini könnte am Ende des ersten Bildes von "La Bohème" einen Geschlechtsakt in Musik umgesetzt haben, der kriegt sie am Würzburger Mainfranken Theater. Gastregisseur Roland Velte deutet es dezent, aber unmissverständlich an.
Der Professor aus Detmold hat sich Text und Musik zu Puccinis 1896 uraufgeführtem Werk sehr genau angeschaut, dabei manch Ungewöhnliches gefunden und es konsequent umgesetzt. Immer wieder öffnet er neue Blickwinkel auf die vermeintlich altbekannte Oper.
Auch im Schlussbild. Der letzte Weg führt die sterbenskranke Mimi wieder zu der Tür im Bühnenhintergrund. Dort bricht sie zusammen. Allein. Sie stirbt nicht in den Armen des geliebten Rodolfo, sie ist nicht eingebettet in die Fürsorge ihrer Freunde. Denn Marcello, Colline Schaunard und vielleicht auch Musetta sind in Veltes Interpretation keine echten Freunde.
Das können sie gar nicht sein: Zu sehr sind sie auf sich selbst konzentriert. Wenn sie das Zimmer mit der Sterbenden verlassen, dann nicht, um ein Herzmittel zu holen oder den Doktor, nicht, um Mimi zu helfen. Sie gehen weg, weil sie in ihrer Welt des Vergnügens mit Tod und Leid nichts anfangen können - Körpersprache und Platzierung der Figuren auf der Bühne machen das deutlich.
Veltes Inszenierung führt die an sich nicht unsympathischen Schwerenöter in eine Grenzerfahrung, treibt sie an den Rand eines psychischen Abgrunds, an dem sie hilflos balancieren. Absturz wahrscheinlich. Die Würzburger "Bohème" erhält so eine zusätzliche Dimension. Trotzdem bleibt - und das ist das Schöne - die Oberfläche einer tragischen Liebesgeschichte im leichtlebigen Paris erhalten. Puccinis Oper wird tiefschichtiger, ohne ihre Publikumswirksamkeit einzubüßen. Es macht über weite Strecken einfach auch Spaß, dem ungemein munteren Leben auf der Bühne zuzusehen.
Denn Velte vernachlässigt auch den Witz nicht. Dafür sorgt nicht zuletzt Schaunard, den Uwe Schenker-Primus tuntig à la "(T)Raumschiff Surprise" mit viel komischem Talent darstellt (und sehr sicher singt). Das Libretto gebe diesen Ulk her, behauptet Roland Velte. Jedenfalls schadet er nicht. Im Gegenteil. Es gibt Sängerinnen, deren Höhen strahlender klingen. Aber Anja Kaesmacher zeigt als Mimi andere Qualitäten, bringt mit weicher, lyrischer Mittellage und sanft angesetzten Tönen das richtige Maß an Emotion über die Rampe. Die Sopranistin formt einen Charakter zwischen Zerbrechlichkeit und wild aufblühender Lebenslust. Sie ist ein bisschen Luder und ein bisschen Kind. Sie erzeugt Mitleid, ohne je kitschig zu werden, erfüllt - wie das ganze Team - auch die extrem hohen schauspielerischen Anforderungen, die Regisseur Velte stellt.
Der lässt Musetta eine Entwicklung durchmachen. Vom Vamp, selbstsicher und hart (was sind das für Spielchen mit Peitsche im Hintergrund?), wird sie zur Frau, die vielleicht als einzige wirklich am Schicksal Mimis Anteil nimmt. Silke Evers hat die Partie in jeder Phase im Griff (sie wechselt sich mit Anke Endres ab). Heiko Börner (Rodolfo) wächst an seiner Aufgabe und findet in der berühmten "Che gelida manina"-Arie nach blassem Beginn zu Ausdrucksstärke. Profil zeigen, wie gewohnt, Young-Joo Kim und Andreas Bauer als Marcello und Colline.
Im Orchestergraben geht Evan Christ mit dem Philharmonischen Orchester eher unsentimental, aber kontrastreich zu Werke. Da säuselt das bittersüße Mimi-Motiv, da knallen aber auch die Blechbläser.
Während die Kostüme von Götz Lanzelot Fischer opulent ausfallen und das bunte, teils massenhafte Treiben (Chor, Extrachor, Kinderchor, uniformiert marschierende Musikkapelle Rimpar) unterstützen, hat Bernd Franke ein eher spartanisches Bild gebaut. Das kann zwar Schauplätze nicht wirklich abbilden, aber Seelenzustände symbolisieren. Immer dominiert der übermannshohe Kamin, der nur ein einziges Mal ein wenig glühen darf, ansonsten aber ein kaltes schwarzes Loch ist, kalt wie diese angeblich so heitere Gesellschaft.
Nächste Vorstellungen: 5., 14. und 23. Oktober. Karten: Tel. 39 08-124.