Wenn ein Anruf kommt, lässt sie alles stehen und liegen. Schnappt Pinsel und Rupfen, packt den Gips ein. Und fährt los, auch am Wochenende, auch mitten in der Nacht. Es muss zügig gehen, meist drängt die Zeit. Allzu lange könnten die Bestatter ja nicht warten, sagt Alexandra Beate Pohlus. „Die Arbeit muss ja getan sein, bevor die Beerdigungsfeierlichkeiten beginnen.“
Sie würde auch ihren Urlaub unterbrechen, wenn sie gerufen wird. Um in die Klinik zu fahren, in die Pathologie, in die Leichenhalle. Oder in das Haus, in dem ein Mensch starb. Der Mensch, von dem Alexandra Pohlus das Gesicht abnehmen wird. Das letzte Gesicht. Das Abnehmen von Totenmasken – es ist eine uralte, selten gewordene Tradition, die die Würzburger Bildhauerin noch beherrscht und pflegt. Ein plastisches Erinnerungsstück des Verstorbenen zu schaffen, ein Bild zum Anfassen: „Es macht den Tod fassbarer“, sagt Pohlus.
Als Studentin zum ersten Mal alleine mit dem Toten
Sie war Anfang 20, als sie zum ersten Mal selbst und alleine das Gesicht eines Leichnams eingipste, in Wien. Alexandra Beate Pohlus studierte in München Bildhauerei an der Akademie der Bildenden Künste bei Professor Leo Kornbrust in der Klasse für architekturbezogene Plastik. Sie arbeitete auch als Assistentin in der Werkstatt der Akademie, half beim Formenbau und bei Abgüssen. Und war dabei, wenn der Meister gerufen wurde, um eine Totenmaske zu machen.
„Den Meister hat es gegraust“, sagt die Bildhauerin. Gebeugt über dem Leichnam stehen, Gips anrühren, Vaseline auf das Gesicht schmieren, Gips auftragen. Ihr machte die Begegnung mit den Toten, das Anfassen, Berühren nichts aus. Das erste Mal ging die junge Studentin 1982 mit, als Carl Orff gestorben war. Die Stadt München hatte bei der Kunstakademie die Abnahme der Totenmaske des Komponisten in Auftrag gegeben. Der Meister musste hin, so ungern er es tat.
"Den Meister hat es gegraust."
Alexandra Beate Pohlus über ihre Lehrjahre an der Münchner Kunstakademie
Sie selbst habe sich danach gefragt, warum es sie nicht grauste, warum sie keine Scheu hatte vor dem Toten. „Mich hat das interessiert, und ich fand es viel normaler als ich mir es vorgestellt habe.“ Vielleicht, sagt Alexandra Pohlus, sei ihr durch ihre Eltern, die eine große Praxis für Physiotherapie betrieben, der Umgang mit dem menschlichen Körper leicht gefallen. „Das hat man, oder man hat es nicht, das kann man nicht lernen.“
Das Gefühl gehabt, auf den Charakter schließen zu können
Als dann eines Sommers in der Urlaubszeit ein Wiener Bestatter in der Münchner Akademie anrief, dringlich, um eine Totenmaske in Auftrag zu geben . . . Der Meister schickte seine Studentin. Und so stand Alexandra Pohlus in Wien, im Keller eines Krankenhauses, alleine mit dem Toten und begann, mit dem eilig noch gekauften Gips, ihre Arbeit. Der Verstorbene war Fabrikbesitzer aus einer bekannten Industriellenfamilie. Als sie ihm das letzte Gesicht abnahm, erzählt Pohlus im Rückblick, habe sie das Gefühl gehabt, auf seinen Charakter schließen zu können und zu wissen: So muss der gewesen sein. Ihre Ahnung wurde bestätigt – im Gespräch mit der Tochter, der sie die Maske übergab.
Totenmasken haben eine lange Geschichte. Im Alten Ägypten und in der Antike bestanden sie häufig aus Gold, waren frei gearbeitet und bedeckten bei der Bestattungszeremonie das Gesicht des Toten. In seiner „Historia naturalis“ erwähnt der römische Gelehrte Plinius der Ältere im ersten Jahrhundert nach Christus erstmals Gipsabgüsse von Verstorbenengesichtern. Sie seien eine Erfindung des Lysistratos aus Sikyon. Der griechische Bildhauer habe zur Zeit Alexanders des Großen statt frei zu modellieren das Gesicht nach der Natur in Gips abgeformt und danach das Porträt geschaffen.

In der Spätantike hatte sich die Tradition, mit den Masken an verstorbene Ahnen und Persönlichkeiten zu erinnern, verloren. Bernhardin von Siena, der italienische Priester und Ordensmann, war dann 1444 einer der ersten, von dessen Antlitz in der Renaissance eine Totenmaske – als Grundlage eines Terracotta-Porträts – abgenommen wurde. Hatten die Masken über die Jahrhunderte dazu gedient, mit ihrer Hilfe Bildnisse oder Büsten zu fertigen, erkannte man im 19. Jahrhundert dann ihren Eigenwert und ihre Bedeutung für die Kunst.
Totenmasken als Kultobjekte des aufgeklärten Bürgertums
Es begann eine Blütezeit. Von den Komponisten Richard Wagner, Josef Haydn, Ludwig van Beethoven oder Gustav Mahler sind berühmte Gedenken in Gips bekannt, auch vom 1886 zu Tode gekommenen König Ludwig II. Totenmasken wurden zu Kultobjekten des aufgeklärten Bürgertums. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es üblich, von prominenten Persönlichkeiten ein naturgetreues Abbild zu nehmen.
Im Todesfall ist nie viel Zeit. Erhält sie einen Auftrag, spricht Alexandra Beate Pohlus kurz mit den Hinterbliebenen. Dann beginnt sie, nach einem Kreuzzeichen und einem kurzen Gebet, ihre Arbeit. „Vorsichtiger noch als bei Lebenden, wo man auch mal ein bisschen ruckeln kann.“ Und mit Handschuhen – „aus Respekt“. Für das Negativ verwendet die Bildhauerin reinen Gips. „Durch seine kristalline Struktur zeichnet er jedes Härchen, jedes Fältchen, jede Pore exakt ab.“

Zwei, drei Stunden, manchmal auch länger, dauert die Arbeit am Verstorbenen. Pohlus cremt mit dem Pinsel die Haut ein, zum Schutz. Füllt Nase und Ohrenlöcher mit Watte. Spachtelt den Bart mit Vaseline aus. Dann trägt sie eine erste Schicht Gips auf, ganz dünn. Und legt dann – „das ist die Kunst“ – zwei Baumwollfäden in den Gips über das Gesicht. Als Trennlinien, von Stirn bis Kinn, jeweils mitten über die Augen.
Zwei Fäden mitten über die Augen - damit es drei Teile werden
Dass das Negativ aus drei Teilen besteht, ist wichtig. Denn so, sagt die Bildhauerin, könne sie die Schale behutsamer entfernen. Und sie kann die „individuell besonders interessante Partie der Ohren“ mit abformen. Ergebnis ist ein 2/3-Abguss des Hauptes, der die Kopfform unverfälscht wiedergibt.
Dann kommt es auf Kairos an, den rechten Augenblick. Im richtigen Moment – wenn der Gips angezogen hat, aber noch weich ist – zieht sie die dünnen Fäden wieder heraus, die Negativform ist dreigeteilt. Sie halte sich bei ihrer Arbeit „zur Gänze an die über Jahrhunderte überlieferte Handwerkstradition“, sagt die Bildhauerin, die auch Philosophie und Theologie studierte und in Kunstgeschichte promovierte.
"Mit Silikon kannst‘ fui macha, aber es is hoit koa Kunst."
Die Bildhauerin über moderne Schnellverfahren der Bestatter
Die modernen Schnellverfahren, wie sie die Thanatologen, die spezialisierten Bestatter, anwenden, sind ihr ein Graus. „Mit Silikon kannst‘ fui macha, aber es is hoit koa Kunst“, sagt Pohlus mit der Deutlichkeit ihrer oberbayerischen Herkunft. Durch den hochwertigen Gips könne sie die letzten Züge wesentlich genauer und naturgetreuer abnehmen, als es der Kunststoff vermag.
Beim Anblick des toten Vaters das Versöhnliche gesehen
Oft formt sie auch die Hände. Es ist eine intensive, konzentrierte und sehr ruhige Arbeit am Leichnam. Ihr eigener Vater sei sehr jung gestorben, erzählt Alexandra Pohlus, die seit drei Jahren in Würzburg lebt und hauptberuflich als Kunsterzieherin am Riemenschneider- und am Röntgen-Gymnasium unterrichtet. Sie hätte ihm noch so gerne „sagen wollen, dass ich ihn mag“, sagt Pohlus. „Aber er hat so friedlich ausgesehen“, das tröstete. Und es wurde ihr zur Motivation für ihr besonderes Handwerk: Pohlus will „das Versöhnliche festhalten für die Hinterbliebenen“.
Als Künstlerin nehme sie sich bei den Totenmasken völlig zurück. „Ich stelle mich in diesen letzten Dienst – und fertig.“ Pohlus bietet den Hinterbliebenen an, dass sie dabei sein können, wenn sie das Gesicht eingipst. Für viele Angehörige sei es tröstlich, das Ritual mitzuerleben und so Abschied nehmen zu können. Oft beginnen sie dann zu reden. Über den Verstorbenen, das Sterben und den Tod. Pohlus wird zur Zuhörerin.
"Das Gesicht offenbart, wie der Mensch gelebt hat."
Alexandra Beate Pohlus über die Totenmaske
Und wenn sie alleine ist, mit dem Leichnam? Alexandra Pohlus sagt: „Als religiöser Mensch sehe ich den Körper als eine Hülle, die die Person nach dem Tod ablegt.“ Die Totenmaske gebe typische Gesichtszüge deutlicher wieder als eine Lebendmaske. Und Eigenschaften: Güte, Strenge, Wärme, Großherzigkeit, Härte, Emotionalität – „das Gesicht offenbart, wie der Mensch gelebt hat“.

Im Atelier geht die Arbeit dann weiter. Pohlus fügt die drei Gipsteile des Negativs zusammen, retuschiert Fehlstellen. Und füllt die Form mit einem Pinsel, in mehreren dünnen Schichten mit cremigem Alabastergips aus. Reiner weißer Gips, der sehr hart wird und strahlt. Ist er nach zwei, drei Wochen ganz getrocknet, befreit die Bildhauerin die Positivmaske erst mit Hammer und Meißel, dann mit feinen Schabern, Nadeln und Fingerspitzengefühl vom Negativ. Das Negativ ist verloren, es bleibt der eine, der einzige Abdruck.
Noch eine Schutzschicht aus verdünntem Acrylbinder darauf und etwas Talkum für samtige Anmut. Die reinweiße Farbe, die das naturgetreue Abbild schließlich hat mache viel vom versöhnlichen und friedvollen Gesichtsausdruck der Totenmasken aus, sagt Pohlus. „Das Leiden sieht man nicht mehr. Das ist etwas Großartiges.“