Im Armenhaus geboren, Herkunft unbekannt, das Zuhause ein heruntergekommenes Waisenheim mit einer grausamen Leiterin, als Kind verkauft, auf der Flucht, in kriminelle Gesellschaft und Lebensgefahr geraten, unterstützt von gerade mal an einer Hand abzählbarer Anzahl guter Menschen – und erst ganz am Ende der Geschichte der Ausblick auf eine hoffnungsvolle Zukunft: Das ist in Kurzform die Geschichte des bedauernswerten Kindes, dessen Geschichte Charles Dickens in seiner Novelle "Oliver Twist" aus dem Jahr 1837 beschreibt.
Carsten Steuwer, der schon 2022 Dickens "Weihnachtsgeschichte" für das Theater Chambinzky dramatisierte, inszeniert nun für die große Bühne dieses Hauses eine neue "Twist"-Version des Klassikers als "Kunstmärchen". Fraglich, ob dieser schwere Stoff geeignet ist, für weihnachtliche Stimmung zu sorgen. Spannend und mit einigen humoristischen Stellen versehen ist die Aufführung auf jeden Fall. Aber auch kindertauglich und -begeisternd?
Raffiniert gemacht, aber mit gehetztem Touch
Ohne Vorkenntnisse dürfte es nicht ganz leichtfallen, der Geschichte zu folgen. Neun Darsteller, entsprechend der kalten, düsteren Welt der Armen, Ausbeuter und Verbrecher zumeist gekleidet in tristfarbene Outfits, schlüpfen in über zwei Dutzend Rollen. Hinzu kommen die dichten Szenenfolgen, die häufigen Änderungen des Bühnenbilds. Unterm Strich ist das alles raffiniert gemacht, verleiht dem zweistündigen Stück aber auch einen etwas gehetzten Touch. Da die Darsteller (zu) wenig Zeit haben, den Charakter und die Emotionen ihrer Figuren herauszustellen.
Doch es gibt Ausnahmen und Szenen, die besonders beeindrucken: eine innige Umarmung, als Oliver (gespielt von Katharina Müller) sich von seinem einzigen Freund im Waisenhaus verabschiedet; seine devote, beflissentliche Haltung gegenüber den Personen (dem Sargmacher Sowerberry, verkörpert von Nick Danilcenko; Mister Fagin, gespielt von Christian Irwine; Kurt Egreder als Mister Brownlow), die ihm (vermeintlich) aus seiner miesen Lage heraushelfen können. In Steuwers Inszenierung blitzt auch immer wieder auf, dass ein Teil dieser skrupellosen, gewaltbereiten und -gewalttätigen Menschen nicht von Grund aus schlecht ist, dass sie ein Gewissen haben, Gefühle füreinander hegen.
Für Oliver, den sich nach Liebe und Geborgenheit sehnenden kleinen Jungen, gibt es zwar ein Happy End und er wiederholt die Aussage seines Adoptivvaters "jetzt ist alles gut". Sein Gesicht aber zeigt deutliche Zweifel …
Neben den genannten Akteuren spielen Ursula Bertelmann, Adeliya Sagitova, Sophia Memmel, Silvia Schreiner und Anna Koch.
Das Stück steht, jeweils Mittwoch bis Sonntag, bis 26. Dezember auf dem Spielplan. Karten(reservierung) unter Tel.: (0931) 51212 oder theater@chambinzky.com