Schuster sollte der Junge werden. Und Schuster wurde er. „Damals in den Sechziger Jahren war es üblich, dass der Vater bestimmt hat, was man zu tun hat“, sagt der Würzburger Schuster Walter Caputo. Dass der Junge zunächst keine Liebe für den Beruf mitbrachte, war unerheblich für Vater Ettore Caputo. Den hatte es in den Kriegswirren von Süditalien über Albanien nach Unterfranken verschlagen. In Gaibach hatte er seine Frau Sophie gefunden. In Würzburg, in der Gressengasse beim Unteren Markt, eine Schusterwerkstatt aufgemacht – mit genug Arbeit auch für den Sohn. Weil aber die „echten Würzburger“ Schuster den Jungen als Lehrling nicht nehmen wollten, weil sie die „Konkurrenz“ fürchteten, wie Walter Caputo meint, schickte ihn der Vater nach der achten Klasse Volksschule in die „Berufslehranstalt für Körperbehinderte“ am Würzburger König-Ludwig-Haus. „1966 war das; vierzehn Jahre war ich damals alt“, sagt Caputo.
Einziger Ausländerjunge
In der Schule schon hatte er sich ausgegrenzt gefühlt, als einziger „Ausländerjunge“. Und nun war er der einzig Gesunde unter körperbehinderten Mitschülern. „Links saß einer, der aß mit den Füßen. Rechts saß einer, der hatte epileptische Anfälle.“ Rotz und Wasser habe er geheult am Anfang der Lehrzeit, sagt Caputo. Widerspruch? Zwecklos. Lehre abbrechen? „Aufhören hat es damals nicht gegeben.“
Backpfeifen gab es reichlich in der Ausbildung
Drei Jahre später waren aus „Körperbehinderten“ Freunde geworden – einige davon lebenslange Freunde, wie sich später herausstellen sollte. Walter hatte gelernt, verkrüppelte Füße zu vermessen – nachdem er die Füße gewaschen hatte; das verstand sich. Er konnte für den Orthopädie-Schuh das richtige Leder, den richtigen Schaft, die beste Form aussuchen. Hatte gelernt, Leder zu vernähen, auch auf die alte Art, mit einer Schusternadel aus Schweineborsten. Konnte sogar selbst diesen „Schusterdraht“ aus Pech, Hanf und Schweineborsten herstellen. Von acht Uhr früh bis mittags um halb fünf ging täglich die Ausbildung; „Backpfeifen“ eingeschlossen und Anraunzer vom Chefarzt auch, dem die zu langen Haare des Lehrlings nicht passten.
Kaum dass der Junge um fünf zu Hause war, zeigte der Vater auf Stiefel in der Werkstatt. „Da, für dich. “ Bis sieben Uhr abends ging das so. Und samstags war Berufsschule. Harte Lehrlingsjahre waren das. Und doch Jahre, in denen der junge Mann merkte, dass ihm dieses Handwerk lag, er es sogar lieben könnte. 1969 bekam er seinen Gesellenbrief, hatte eine Stelle in Aussicht.
Warum nach der Schusterlehre das Eiscafé kam
Genau zu dieser Zeit allerdings hatte sein Vater die Schuhmacherei satt und beschloss, lieber ein Eiscafé zu eröffnen. Es waren immer noch die Sechziger Jahre. Und wenn der Vater wollte, dass sein Sohn die Schusterleiste gegen die Eiskelle tauschte, dann hatte der Sohn zu folgen. Sechs Jahre lang sollte Walter im Eiscafé Roma in der Würzburger Theaterstraße Espresso brühen, Cappuccino zubereiten und Eiskugeln auf Waffelhörnchen setzen. Dann teilte der Vater der Familie mit, dass er seinen Ruhestand in Apulien zu verbringen gedenke: „Wir sind ja, als ich ein Kind war, im Sommerurlaub nach Lecce gefahren, 700 Kilometer bis zum Brenner und noch mal 700 Kilometer bis Apulien. Der Vater und der Bruder auf dem Motorrad, die Mutter und ich im Beiwagen.
Muss man sich mal vorstellen! Heute wären wir da sofort aus dem Verkehr gezogen worden. Jedenfalls wusste ich dadurch, dass ich nicht in Apulien leben wollte“, erzählt Caputo.
Zuviel Sonne. Er brauche Nebel, Schnee und Wald. Er brauchte – Würzburg. Er wurde Obsthändler. Dann Fachberater für Schuhe. Als er es zum Filialleiter bei Mister Minit geschafft hatte, kamen die Eltern zurück aus Apulien. Zu heiß. Zu gefährlich. „Mach den Meister“, sagte der Vater dem Sohn. Wie es der Zufall wollte, wurde da gerade das gleiche Ladengeschäft in der Gressengasse wieder frei, das der Vater Jahre zuvor zugunsten des Eismachens aufgegeben hatte. Das war 1985.
Ein Schuster, der zehn Jahre alte Pumps ins elfte Jahr rettet
Seit jetzt 32 Jahren richtet der Schustermeister, der nie Schuster werden wollte, den Kunden mit Liebe und Wissen die abgelatschten Qualitätsschuhe wieder her. „Wer die billigen Schuhe kauft, aus Kunstleder oder Plastik, der kommt ja nicht. Der wirft sie weg und kauft neue.
“ Zu ihm komme der Kunde, der für seine sechs Jahre alten Lederstiefel neue Absätze braucht, die alte Kundin mit den „schwierigen Füßen“, bei der neue Schuhe grundsätzlich am kleinen Zeh drücken und die jüngere Kundin, die ihre zehn Jahre alten Pumps unbedingt ins elfte Jahr retten will. „Da tut nichts weh, auch nach vielen Stunden nicht“, sagt sie. Aber innen ist das Leder brüchig, die Riemchen sind gerissen, die Absätze abgelaufen. Das passende schwarze Ersatz-Kalbsleder für die Innenseite der Pumps hat Caputo schon aus einem Kästchen unter der Theke gefischt, bevor die Kundin ausgeredet hat. Der Laden läuft gut, aber wegen der Billigkonkurrenz im Internet oder bei Discountern kommt nicht mehr die Menge an Aufträgen wie früher, „als wir hier vier Mann in dem kleinen Laden waren“. Ab Januar 2018, wenn Walter Caputo offiziell in Rente ist, wird Schuhmachermeister Sascha Spieß den Laden weiterführen.
Wie Geselle Sascha seinen Meister rettete
„Der Sascha“ – das ist der Mann, der Walter Caputo über die schwerste Zeit in seinem Leben hinweggeholfen hat. Vor ein paar Jahren, nach der Scheidung von seiner Frau, überfiel Caputo eine Depression, eine von der Sorte, die „so schlimm war, dass das nur der begreift, der selbst dort war“. Er habe, sagt er, am Main gesessen, auf einer Bank, mehr habe er am Tag nicht tun können. Nicht tun wollen. Er habe, sagt er, keinen Sinn mehr im Leben gesehen; ja, das solle man bitte schreiben. Für die anderen, die, die grade drinsteckten in einer Krise.
Caputo half die psychiatrische Behandlung, halfen Medikamente. Langsam fand er die Lebensenergie wieder, aber es dauerte rund ein Jahr, bis er wieder arbeiten konnte. Wenn sein Geselle, der Sascha, der künftige Nachfolger, damals nicht gesagt hätte „Meister, ich mach das, bis du wieder fit bist“, dann gäbe es sein Geschäft nicht mehr, sagt Caputo. Er sagt es und es ist der eine Moment, wo er vielleicht, wäre er noch vierzehn, Rotz und Wasser heulen würde. Aber er ist jetzt 65 Jahre alt, der ehemalige Geselle wird den Laden übernehmen und er selbst macht sich auf zu neuen Ufern. Alles ist gut.
Neue Ufer für Walter Caputo
Dasjenige neue Ufer, auf das sich Caputo am meisten freut, ist die Arbeit beim Erthal-Sozialwerk als „EX-IN-Genesungsbegleiter“. Seit einem Jahr hat er sich ausbilden lassen, fürs nächste Jahr hat er schon einen Vertrag abgeschlossen. „Ich helfe mit meiner Erfahrung mit psychologischen Krisen denen, die in so einer Krise drinstecken“, sagt er. Caputo will sich in seinem neuen Lebensabschnitt aber auch Zeit nehmen für das, was ihm selbst Kraft gibt. Tanzen. Motorradfahren. Und vor allem Wandern. Der leidenschaftliche Läufer ist schon zu Fuß von Würzburg über die Alpen gelaufen. Für seinen Ruhestand hat er sich vorgenommen, einmal bis nach Rom zu wandern. Und was sagt der Schuhmachermeister, wenn man ihn fragt, welches Schuhwerk er dabei trägt? „Nach Rom“, sagt er, „liefe ich am liebsten barfüßig.“