Hätten die Würzburger mal Mitte des 19. Jahrhunderts auf seine Majestät König Ludwig I. gehört! Dann befänden sich heute in der Mauer am Rennweg keine kleinen Löcher. Klingt paradox? Ist aber so, wie Julia Breunig herausgefunden hat. Seit die Kartografin für WürzburgWiki schreibt, geht sie besonders wachen Blicks durch die Stadt und achtet dabei vor allem auf die kleinen Dinge. Die, an denen man achtlos vorübergeht, hinter denen aber große Geschichten stecken können. Und so entdeckte sie eines Tages auf einem ihrer Streifzüge die Löcher, zwei Daumen breit, in unterschiedlichen Abständen. Mal zwei, mal drei, mal vier nebeneinander.
Einen Reim drauf machen konnte sie sich nicht. Aber das Recherchefieber hatte sie gepackt. Sie wälzte Bücher, las alte Zeitungsartikel und schließlich wurde sie bei Franz Seberich, seines Zeichens Heimatforscher und Ehrendoktor der Universität Würzburg, in einer Fußnote des Artikels "Der alte Bahnhof und seine Schicksale" fündig. Und mit ebenjenem Bahnhof haben die Löcher zu tun.
Ein Bahnhof inmitten der Befestigungsmauern
Obwohl der eingangs bereits erwähnte König sich in einem Erlass „allerhöchst dahin auszusprechen geruht, daß die Eisenbahnhöfe vor den Städten zu erbauen seyen, indem Allerhöchst Dieselben es ungern sehen, wenn Stadtmauern durchbrochen und Stadttore abgebrochen werden“, war man in Würzburg anderer Meinung. Und errichtete, als man einen solchen brauchte, einen Bahnhof inmitten der damals noch vorhandenen sternförmigen Befestigungsmauern.
Begründung: eine bessere und bequemere Erreichbarkeit. Ihro Majestät hatten sich also vollkommen umsonst auszusprechen geruht. Ein Platz inmitten der Befestigungsmauern wurde gesucht und gefunden: „Da das Gelände zwischen dem Bürgerspital und der Kapuzinergasse wenig bebaut und günstig zu erwerben war, entschied man sich für diesen Standort“, erzählt die Würzburgerin. Bis dort gebaut werden konnte, brauchte es aber noch einiges an Vorbereitung: „Es handelte sich teilweise um sumpfiges Gebiet, und es fiel von der Kapuzinergasse ab, weshalb teilweise Bodenauffüllungen bis zu fünf Metern nötig waren, um ein ebenes Bahngelände zu erreichen.“
Die rostigen Löcher verraten die einstige Verwendung der Steine
Nachdem 1851 der Kopfbahnhof genehmigt worden war – ein Durchgangsbahnhof war aufgrund der Lage nicht möglich – mussten zunächst der Wall und die Stadtmauer für die Zugdurchfahrt durchbrochen und der trockene Festungsgraben überwunden werden. Dafür wurde eine 63 Meter lange Brücke gebaut, über die die Züge auf zwei Gleisen verkehren konnten. „Die Brücke bestand aus vier massiven Steinjochen und stadtseitig aus zwei Holzjochen“, hat Julia Breunig recherchiert. „So konnte sie im Kriegsfall leichter abgerissen werden.“
Und nun kommen auch die Löcher ins Spiel: „Die Schienen wurden direkt auf die Steinquader aufgenagelt“, erklärt sie. In Seberichs Fußnote steht dazu: „Man erkennt sie (die Quader an ihrem heutigen Standort, also der Mauer am Rennweg - d. Red.) an den rostgefärbten Doppellöchern. Diese enthielten die Schienennägel, da auf der Brücke die Schienen nicht auf Schwellen, sondern direkt auf den Quadern ruhten.“

Julia Breunig fasst zusammen: „Die Quader stammen also ursprünglich von der ehemaligen Bahnbrücke, die über den Stadtgraben zum Ludwigsbahnhof führte.“ Am Mauerwerk im Rennweg kann man auch einen Stein entdecken, in dem sich vier Löcher nebeneinander in einer Reihe befinden. „Ich bin der Meinung, dass das der Stein ist, auf dem die Kreuzungsweiche aufgenagelt war“, sagt die Kartografin. „Denn im Bahnhof selbst war das südliche Gleis für Personenzüge und das nördliche für Güterzüge bestimmt. Deswegen mussten die Züge auf das richtige Gleis fahren und dafür manchmal kreuzen.“ Am Anfang hatten sie dabei noch nicht zu häufig mit Gegenverkehr zu rechnen: „Das Zugaufkommen war erst einmal gering. Die Loks waren klein und die Züge kurz“, erzählt die Würzburgerin. „Doch der Bahnverkehr hat rasch zugenommen, die Züge wurden länger und neue Linien geplant, zum Beispiel nach Ansbach, Heidelberg und Fürth.“
Im Norden Würzburgs entstand ein neuer Durchgangsbahnhof
Dann entfiel ausgerechnet in dem Jahr, in dem das Hauptgebäude endlich fertiggestellt war, die rechtsmainische Festungseigenschaft Würzburgs und die Stadt konnte sich nun auch außerhalb der Mauern ausdehnen. „In den Folgejahren entstanden Durchbrüche für Ausfallstraßen, die meisten Befestigungsanlagen inklusive der Wälle, Tore und Brücken wurden abgerissen“, erzählt die Kartografin.
Im Norden Würzburgs wurde am Standort des heutigen Hauptbahnhofs ein neuer Durchgangsbahnhof gebaut, der 1864 mit der Eröffnung der Ansbacher Linie den Betrieb aufnahm. Der alte Bahnhof hatte ausgedient und wurde nur noch von einigen Güterzügen angefahren – auch das allerdings nicht lange: Als 1866 das Hauptgebäude des neuen Bahnhofs fertiggestellt war, setzte man den Ludwigsbahnhof gänzlich außer Betrieb und brach ihn zwei Jahre später ab, nur die Ludwigshalle blieb noch bestehen.
„Die Quadersteine waren aber noch in allerbestem Zustand, deshalb wurden sie wiederverwendet.“
Julia Breunig, Kartographin und WürzburgWiki-Autorin
Das ehemalige Bahngelände wurde zu Baugrund entlang der neuen Ludwigstraße. Der Ringpark entstand, der Wall wurde abgetragen und der Graben aufgefüllt. Die Brücke war nun nicht mehr vonnöten und musste bis Sommer 1873 weichen. „Die Quadersteine waren aber noch in allerbestem Zustand, deshalb wurden sie wiederverwendet“, nähert sich Julia Breunig nun der Frage, wie die ehemaligen Brückensteine in die Mauer am Rennweg kommen. „Ein Teil wurde am Oberen Mainkai in der Ufermauer verbaut, davon ist aber nichts zu sehen, weil die entsprechenden Stellen wohl unter Wasser liegen. Und mit einem Teil der anderen Steine hat man eben diese Mauer gebaut, die den Rennweg vom Hofgarten abgrenzt.“
Nur die Löcher in den Steinen künden von der alten Funktion
Dass ein Mauerbau an dieser Stelle überhaupt nötig war, hängt ebenfalls mit der Entfestigung zusammen: „Der Wall wurde ja an mehreren Stellen durchbrochen und der Graben aufgefüllt. Ein Teil des alten Walls ist bis heute in den östlichen Teil des Hofgartens integriert, ein Teil der alten Stadtmauer blieb entlang dieses Walls erhalten. Aber dort, wo durchgebrochen worden war, musste entlang des neuen Rennwegs in verändertem Winkel eine neue Mauer zur Stützung des Walls ergänzt werden“, erklärt Julia Breunig. Dafür kamen die Steine der Brücke gerade recht. Und nur die Löcher künden noch davon, was sie früher für eine Aufgabe hatten, dass sie einst einen Stadtgraben überqueren und ganze Züge tragen mussten. Es sind eben manchmal gerade die kleinen Dinge, hinter denen große Geschichten stecken.
Text: Eva-Maria Bast
Der Text stammt aus dem Buch „Würzburger Geheimnisse - Band 2“ von Eva-Maria Bast, das in Kooperation mit der Main-Post entstand und soeben erschienen ist. Das Buch enthält 50 Geschichten zu historischen Geschehnissen und Orten. Präsentiert werden die Begebenheiten jeweils von Würzburger Bürgern.